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4. Januar 2021 | Michaela Endemann
Virtuelles Labor des open-source-Projekts Maroon an der TU Graz
Virtuelles Labor des open-source-Projekts Maroon an der TU Graz

Die ersten unfreiwilligen Schritte in Sachen Fernunterricht sind gemacht, nun geht es daran, das neue Semester gut über die Runden zu bringen: Fernlehre dort, wo möglich, Weiterbildung und Digitalisierung auch für Lehrende – eine Herausforderung für alle Beteiligten. 

Das Online-Fernlehre-Konzept hätte Corona nicht gebraucht. Die Harvard Universität startete bereits im Studienjahr 2016/2017 mit 3D-Vorlesungen, etwa über Computer Science 50, an denen im ersten Jahr gleich an die 800 Studentinnen und Studenten teilnahmen und die als kostenlose Massive Open Online Courses (MOOC) bereits Millionen Interessenten erreichten. Mittels einer Virtual-Reality-Datenbrille kann man – virtuell – an der Vorlesung teilnehmen und hat so das Gefühl, mittendrin zu sitzen. Und zwar vor einem virtuellen Laptop, auf dem die Folien zur Vorlesung sichtbar sind, und daneben sitzen andere Teilnehmer. Auf YouTube gibt es Beispiele dieser VR-Videos. Das Projekt Histo-Hal gibt es ebenfalls bereits seit einiger Zeit, nur die vollständige Virtualisierung wurde kürzlich ergänzt. Alle Präparate wurden digitalisiert und sind nun online abrufbar. Im Blog schreibt dazu Faramarz Dehghani vom Institut für Anatomie und Zellbiologie der Medizinuniversität Halle in Deutschland: „In der jetzigen Ausnahmesituation hilft das Projekt, die Lehrveranstaltung komplett digital abzuhalten. Ich bin allerdings der Meinung, dass wir das Mikroskopieren nicht ersetzen können, aber aktuell ist es eine sehr hilfreiche Lösung.“ [1]

Dort, wo Hands-on nötig ist, im Labor, in der Physiotherapieausbildung, in der Medizin usw. wird es also weiterhin unumgänglich sein, den praktischen Unterricht Face-to-Face abzuhalten. Oder doch nicht? Im Bioingenieurswesen finden sich virtuelle Experimente, die auf die beginnende Digitalisierung in der Fernlehre Mitte der 1990er-Jahre zurückgehen. Remote-Labor bedeutet, dass sich ein Versuchsaufbau irgendwo real befindet und über einen Internetzugang gesteuert werden kann. Studierende können z.B. mit der Diffussionsgeschwindigkeit einer verschieden konzentrierten Natriumlösung in destilliertem Wasser experimentieren. Oder es werden Videoaufnahmen erstellt, die mittels Computerprogramm zusammengestellt werden und den Studierenden die Möglichkeit geben, ebenfalls Experimente durchzuführen. Die daraus entstandene Community Working Group Remote-Labore in Deutschland versucht nun seit 2018, solche und ähnliche Remote-Labore zu vernetzen. Vorteile werden darin gesehen, sehr ressourcenintensive Experimente kostenschonender betreiben zu können und ortsunabhängig auch in verschiedenen internationalen Teams zu arbeiten.[2] 

 

Kostengünstige Online-Experimente 

In Indien wurden durch eine Initiative des Ministeriums für Elektronik und Informationstechnologie (MeitY) die virtuellen OLabs entwickelt. Mehrere Institutionen beteiligten sich an der Erstellung. Die OLabs basieren auf der Idee, dass Laborexperimente über das Internet effizienter und kostengünstiger vermittelt werden können. In Vor-Corona-Zeiten wenig genutzt, erfuhren die OLabs jedoch nun einen Aufwind. Die Plattform bietet sowohl die Theorie als auch detaillierte, durch Schüler selbst steuerbare virtueller Experimente in Physik, Chemie, Biologie als auch in Mathematik an. Derzeit sind 20 Schulen in Indien auf der Plattform registriert.[3] 

Die VR-Brille im Einsatz Virtual und Augmented Reality werden ebenfalls vermehrt genutzt und eingesetzt. So werden Versuchsaufbauten mit Augmented Reality ergänzt und z.B. Echtzeitdaten wie Druck oder Temperatur direkt angezeigt.[4] 

Google wartet mit virtuellen AR-Expeditionen auf, die Lehrenden zu Verfügung stehen.[5] 

Und Unternehmen im digitalen Bereich springen derzeit auf den Zug der Digitalisierung des Schulwesens auf. So werden etwa spezielle VR-/AR-Umgebungen zur Verfügung gestellt.[6,7] 

An der TU Graz wird seit über fünf Jahren am Open-Source-Projekt Maroon gearbeitet. Die Lernsoftware stellt ein virtuelles Labor dar und ein Learning-Management-System, in dem verschiedene Lernmodule ausgewählt oder hinzugefügt werden können. 

„Mittels einer VR-Datenbrille taucht man in das Labor komplett ein und kann sich auf das Experiment konzentrieren“, so Johanna Pirker, Projektleiterin am Game Lab Graz. 

Derzeit wird ein Physiklabor simuliert, an weiteren Fächern wie Chemie und Informatik wird bereits gearbeitet. Die Technik macht es möglich, dass auch in einem realen Labor nicht sichtbare Dinge zu sehen sind, Magnetfeldlinien etwa, und sogar spürbar wird, wenn man zwei Magneten aneinander führt. 

„Damit hat das virtuelle Labor auch Potenzial für Experimente, die sonst zu teuer oder zu gefährlich wären“, sagt Pirker. Bereits Anfang 2019 startete die erste Testphase in mehreren Schulen, die ersten Erfahrungen seien durchwegs positiv und die VR-Umgebung unterstützt Lernende dabei, konzentriert und fokussiert zu arbeiten. „Die Corona-Krise hat jedoch auch gezeigt, wo die Grenzen sind. Noch nicht viele Lernende haben das Equipment daheim, also die VR-Brille und die nötigen Controller, und deshalb arbeiten wir parallel auch an einer Version ohne VR-Brille. Das fühlt sich dann so an wie im Computerspiel“, so Pirker. Und man will noch einen Schritt weiter gehen. 

„Bisher kann nur eine Person im virtuellen Labor stehen, das ist aber eigentlich unrealistisch, denn oft sollen ja mehrere zusammenarbeiten. Aktuell arbeiten wir an verschiedenen Funktionalitäten, um kollaboratives Lernen, sowohl in VR als auch im Web-Browser, zu ermöglichen“, sagt Pirker. „Ich könnte mir vorstellen, dass Schulen ein eigenes VR-Labor haben, in dem VR- Setups umgesetzt werden können, wie in einem VR-Café, das man aus der Gaming-Szene bereits kennt, oder kostengünstiger mittels Smartphone und Headset.“ 

 

Virtueller Medizinunterricht 

Doch nicht immer kommen High-Tech-Lösungen zum Einsatz. 

„Praktika wie Ärztliche Gesprächsführung, in denen Situationen mit Schauspielern als Patienten nachgestellt werden und die Studierenden mit der Situation umgehen lernen müssen, haben wir virtualisiert. Das ist gut online machbar“, so Peter Loidl, Vizerektor für Lehre und Studienangelegenheiten der Medizinischen Universität Innsbruck. 

„Was sich ebenfalls sehr gut für eine Online-Version eignet, sind Seminare, in denen Studierende eigene Powerpoint-Präsentationen zu gestellten Themen machen müssen, und häufig ist die Diskussionsfreude der Seminarteilnehmer bei solchen Online-Seminaren sogar größer als in Präsenz.“ Bis zu einem gewissen Grad könne man auch Laborübungen – Biochemie, Biologie – digital anbieten, „indem man die Versuche und ihre Durchführung filmt, die Messergebnisse den Studierenden zur Verfügung stellt und dann eine Ergebnisinterpretation und Diskussion verlangt“. Auch wenn Loidl diese Form des Unterrichts nicht als wirklich adäquaten Ersatz für ein Labor-Praktikum ansieht, so sei es doch für eine bestimmte Zeit ein tragbarer Kompromiss. „In vielen Fällen laufen Hybrid-Varianten, d.h. dass die gesamte Theorie, die sonst im Praktikum so nebenbei gelehrt wird, digital vermittelt wird, und auch Teile der praktischen Experimente, die etwas weniger wichtig sind, in digitaler Form demonstriert werden.“ So sei es möglich, die eigentliche praktische Tätigkeit in Präsenz auf die wichtigsten kritischen experimentellen Schritte zu beschränken. „Dadurch spart man Zeit, kann die Gruppen kleiner machen – Abstände können eingehalten werden – und schafft es, zumindest die wichtigsten Praktikumsteile allen Studierenden ‚live‘ zu ermöglichen“, so Loidl.

 

Virtuelle Physiotherapieausbildung 

An der FH Joanneum in Graz wurde die theoretische Physiotherapieausbildung in die Virtualität ausgelagert. Beate Salchinger, Leiterin des dortigen Instituts der Physiotherapie, sagt: „Besonders besprochene Powerpoint-Folien, Ausarbeitungen und Arbeitsaufträge auf Moodle und Selbsterarbeitung von Inhalten sowie, dass sich die Studierenden selbst beim Üben filmen und das Video zur Korrektur senden, wurden gut angenommen.“ Das Feedback für Ausarbeitungen funktioniere auch sehr gut. „Die Studierenden sind sehr streng mit sich selbst.“ Schwieriger seien die vielen praktischen Inhalte in der Physiotherapie. „Übungen, bei denen gestreamt wird und der Lehrende mitschaut, sind möglich“, so Salchinger, doch „schwierig ist es im ersten Semester, wenn man die Skills, wie das Gefühl für das Gewebe, noch nicht hat. Spezifische Techniken, die genaues Feedback über Druckstärke oder die korrekte Lokalisation benötigen, sind virtuell nicht vermittelbar.“ 

Ebenso seien Techniken alleine zu Hause schwierig durchführbar, für die man höhenverstellbare Liegen benötige. Kreative Lösungen gibt es allerdings auch: WG-Mitbewohner mussten als Übungspatienten herhalten, und ein Student hat die Lymphdrainage mit einem ausgestopften Trainingsanzug geübt. In der Pädiatrie wurden Puppen aus Geschirrtüchern und Handtüchern gebastelt, erzählt Salchinger aus den Erfahrungen des letzten Semesters.

 

Leihgeräte und virtuelle Photovoltaikanlage 

Lernen von zu Hause aus ermöglicht auch das von der Stadt Wien MA23 geförderte und bereits großteils umgesetzte Projekt Studlab@ Home. Rudolf Oberpertinger, der an der FH Campus Wien im Bereich Technik lehrt und forscht, sagt: „Studierende können eigens dafür angeschafftes Equipment wie elektronische Baugruppen und zugehörige Messgeräte als ‚Pocket-Lab‘ längerfristig ausleihen. Dazu gibt es maßgeschneiderte Aufgabenstellungen, Anleitungen und Lösungen. Das Ganze wird in kleinen Häppchen serviert, sodass sich auch gleich Erfolgserlebnisse einstellen, wenn die eigenen Ergebnisse mit den Lösungen übereinstimmen.“ 

Einsatz finden die Systeme in zahlreichen Studiengängen der FH Campus Wien, unter anderem im Bachelorstudiengang Clinical Engineering, wo auf diese Weise elektronische und elektrotechnische Grundlagen für Krankenhaus-Technik praxisnah erarbeitet werden. Ist die Gerätschaft dagegen zu groß fürs eigene Wohnzimmer, beispielsweise eine Photovoltaikanlage, wird auf Simulationstechniken zurückgegriffen. Mit Unterstützung der Stadt Wien im Rahmen der Wiener Fachhochschulförderung wurde bereits 2016 im Projekt Virtuelles Photovoltaiklabor die echte Anlage auf dem Dach der FH Campus Wien umfassend vermessen und in ein realitätsnahes Simulationsmodell gegossen. „Damit können Studierende in der Computersimulation ähnliche Experimente durchführen wie auf der realen Anlage auf dem Dach der Fachhochschule.“ 

Dennoch: „Auch wenn Pocket-Labs, Simulationen und interaktive Online-Inhalte eine wichtige Säule für das durch COVID-19 bedingte Distance-Learning sind, sehnen wir uns nach dem normalen Laborunterricht zurück, denn da warten die richtige Photovoltaikanlage, ein OP für Lehr- und Forschungszwecke mit allerlei Gerätschaft und vieles mehr“, so Oberpertinger.

 

Herausforderungen für die Zukunft 

Der Nachteil der neuen Lehrmethoden ist offensichtlich und wird von den Experten auch nicht verschwiegen: Nicht jeder verfügt über eine teure Datenbrille, und die Internetverbindung muss schon sehr stabil sein, um diese Form des „immersiven Lernens“ voll einsetzen zu können. Aber auch andere Problemfelder tun sich auf. So ortet Michael Auer, Vize-Rektor und Professor für Elektrotechnik an der FH Kärnten, einen enormen Anstieg in den Kosten für Geräte und Software, im Verwaltungsaufwand und im Bedarf an Betreuungspersonal. Bisherige Finanzierungsprogramme auf der ganzen Welt seien nicht wirklich nachhaltig. 

„Es wurden hervorragende Lösungen entwickelt, da es aber nicht wirklich ein ausgereiftes Geschäftsmodell vor allem für Ausgründungen aus Universitäten gab und gibt, verschwanden viele nach einer gewissen Zeit wieder“, sagt Auer und nennt das iLab-Konsortium (MIT, Cambridge), das LabShare-Projekt (Australien), GoLab (Europa), CyberLab (Norwegen), OCELOT (Frankreich). 

„Insbesondere in der Ingenieurausbildung werden wir eine enge Industrie-Akademie-Partnerschaft benötigen, um eine Ausbildung mit der neuesten und besten Ausrüstung zu gewährleisten. Dies erfordert die notwendige Bereitschaft in der Industrie und ein Umdenken in den Bildungseinrichtungen auf allen Ebenen.“ 

Dazu kommt laut Auer, dass, wie so oft in der IT, die Standardisierung nicht ausreichend gelöst ist. „Daher ist es schwierig, Online-Labor-Lösungen wiederzuverwenden.“ Das habe weitreichende Folgen. Für Studierende wie für Lehrende, die auf unterschiedliche Benutzeroberflächen, unterschiedliche Stile und Designs sowie Zeitreservierungssysteme zugreifen müssen, und für Lehrende zudem, da sie in den angebotenen Lösungen nur schwer eigenes Material integrieren können. 

 

Literatur:

[1] Fuhrmann C (2020): Virtuelles Mikroskopieren, digitale Vorlesungen und Präsenzkurse mit Mundschutz: Medizinische Lehre in Zeiten der Corona-Krise. Zugang: https://blog.medizin.uni-halle. de/2020/04/virtuelles-mikroskopieren-digitale-vorlesungen-undpraesenzkurse-mit-mundschutz-medizinische-lehre-in-zeitender-corona-krise/, Zugriff: 21.9.2020. 

[2] Remote Labor: Zugang: https://remote-labore.de, Zugriff 21.9.2020. 

[3] oLabs (2020): Zugang: http://www.olabs.edu.in, Zugriff 21.9.2020 

[4] May D (2020): Wie Cross Reality die Hochschullehre verändern kann und wird. Zugang: https://hochschulforumdigitalisierung.de/de/blog/wie-cross-reality-die-hochschullehreveraendern-kann-und-wird, Zugriff 21.9.2020. 

[5] Bring your lessons to life with Expeditions (2020): Zugang: https://edu.google.com/products/ vr-ar/expeditions/?modal_active=none, Zugriff: 21.9.2020. 

[6] https://www.immersivelearning.news/2020/03/18/lernen-in-vr-von-zuhause-aus-aufgrundcorona-situation-stellt-digitalexperte-imsimity-aus-st-georgen-im-schwarzwald-virtualreality-software-kostenfrei-zur-verfuegung/ 

[7] https://omnia360.de/blog/besser-lernen-mit-virtual-reality/

 

Quelle: ÖKZ EXTRA: Bildung & Karriere 2020 (Jahrgang 62), Springer-Verlag

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