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Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene leiden psychisch besonders stark unter der Pandemie. Die Versorgungsstrukturen waren allerdings schon vor Corona lückenhaft, was jetzt umso deutlicher zutage tritt.
Seit Beginn der Pandemie untersucht die Donau-Universität Krems die psychische Gesundheit von Menschen, die in Österreich leben.[1] Erste Ergebnisse im April 2020 zeigten, dass Depressionen, Angstzustände und Schlafprobleme bis auf das Fünffache zunahmen. Folgeuntersuchungen im Juni und September bestätigten dies. Das bedeutet, 26% der Bevölkerung sind von depressiven Verstimmungen betroffen, 23% von Angstsymptomen und 18% von Schlafstörungen. Ganz besonders gilt das, wie auch eine deutsche Studie2 zeigt, für Menschen zwischen 18 und 24 Jahren.
Wir sehen eine eindeutige Zunahme an Belastungen und Diagnosen psychiatrischer und psychosomatischer Symptome wie Angst, Depression, Substanzabhängigkeiten, Essstörungen usw., in allen Altersgruppen und Schichten.
Dazu ergänzt Judith Noske, ärztliche Leiterin der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie am Landesklinikum Baden-Mödling: „In intra- und extramuralen Betreuungsangeboten tauchen jetzt viele Kinder und Jugendliche auf, die bislang völlig unauffällig waren, nun aber in vieler Hinsicht völlig überfordert sind. Ein zentrales Problem ist, neben fehlender Tagesstruktur, die wegfallende einfache Möglichkeit, Zeit mit Gleichaltrigen zu verbringen. Dabei ist dies essenziell, um ein von Eltern unabhängigeres Selbstbild zu entwickeln.“ Für Familien seien zudem viele Unterstützungssysteme wie Verwandte und Freunde nahezu unerreichbar geworden.
Die kinder- und jugendpsychiatrische Versorgung sei sowohl intra- als auch extramural schon vor der Corona-Pandemie deutlich ausbaufähig gewesen, „jetzt ist diese Problematik aufgrund stark steigender Fallzahlen – um bis zu 30% – sowie gleichzeitiger Einschränkungen viel deutlicher sichtbar geworden. Wir sind dem aktuellen Ansturm in keiner Weise gewachsen, und wir stecken noch mitten in der Krise. Und es wird noch viele anhaltende psychische Auswirkungen geben.“
Kathrin Sevecke verweist auf monatelange Wartezeiten, die starke Inanspruchnahme besonders in den sensiblen Bereichen der Akut- und Krisenversorgung sowie bei den stationären therapeutischen Behandlungen und beim Zugang zu Psychotherapie. Durch Coronafälle in Spitälern und anderen Behandlungseinrichtungen kommt es immer wieder zu Behandlungsabbrüchen.
„Ein wesentliches Element umfassender Behandlungskonzepte ist unbeschwertes Spielen mit Kindern und Jugendlichen – durch die vielen Einschränkungen und Schutzmaßnahmen ist auch dies nur eingeschränkt möglich“, so Kinderpsychiaterin Judith Noske, die ebenfalls auf die vielen Ausfälle beim Personal verweist, sowohl durch Krankheitsfälle, Betreuungspflichten für Angehörige als auch aufgrund von Absonderungsmaßnahmen.
Nach wie vor ist die Versorgung im Kinder- und Jugendbereich im Aufbau, und es ist noch viel zu tun. Es gab schon vor Corona viele Versorgungsengpässe.
Noske betont jedoch, dass es viele dieser Problemfelder ebenso im Bereich der psychiatrischen Versorgung für Erwachsene gibt. Das medial viel diskutierte Triagieren von Patienten habe teils schon vor Corona umgesetzt werden müssen und präge jetzt noch mehr den Alltag. Ein Grund sei die 30- bis 40%ige Zunahme an Kriseninterventionsnotwendigkeit, „wobei zu befürchten ist, dass das ein längerfristiger Trend ist“.
„Auch schon vor der Krise war es aus budgetären Gründen nicht möglich, alternative Versorgungsmodelle umzusetzen, ausgehend von schon lange vorliegenden Konzepten“, kritisiert Kathrin Sevecke.
Ein zeitgemäßer Zugang wäre etwa das Home Treatment wie es z.B. in Deutschland und Großbritannien schon lange umgesetzt wird – interdisziplinäre Behandlungsteams gehen dabei zu den Familien. Hoffnung gebe ein Modellversuch in Wien. Die Präsidentin der Fachgesellschaft versucht schon seit zwei Jahren, in Tirol Vergleichbares umzusetzen, wo sie als Direktorin der Universitätsklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik im Kindes- und Jugendalter in Innsbruck und als Primaria der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik in Hall tätig ist. Laut Strukturplan müsste es in Innsbruck 72 Betten für die Kinder- und Jugendpsychiatrie geben, aktuell sind es 43.
„Deutlich sinnvoller wäre hier, nicht noch ein Stockwerk draufzusetzen, sondern das Home Treatment anzugehen, das nachweislich eine hohe Effektivität mit nachhaltiger Wirkung hat.“
Genauso sieht das ihre Kollegin Noske aus Mödling. Sinnvoll wäre laut Sevecke zudem der Ausbau des Behandlungsangebots bei Substanzabhängigkeiten sowie spezielle Angebote für Eltern mit Kindern. Sie verweist zudem auf die nachweislich hohe Effektivität von Angeboten wie Reit-, Kunst-, Tanz-, Kletter- und tiergestützte Therapie bei Kindern und Jugendlichen. Doch dergleichen ist weder in den Abrechnungsoptionen von Krankenhäusern vorgesehen, noch gibt es eine Abdeckung durch die Sozialversicherung; so müssen solche Therapiestunden auch im (teil-)ambulanten Bereich von den Familien getragen werden.
Eine weitere Versorgungslücke klafft in der Transition, dem Übergang vom Jugendlichen- zum jungen Erwachsenenalter: „Gerade durch Corona sind junge Menschen ge- und überfordert dabei, tragfähige Zukunftsperspektiven für ihr Leben zu entwickeln und schrittweise umzusetzen“, sagt Judith Noske.
Die Kinder- und Jugendpsychiatrie hat hier mehr Möglichkeiten, zu unterstützen und sich mit Familien und anderen Helfenden zu vernetzen. Ab dem 18. Geburtstag ist automatisch die Erwachsenenpsychiatrie zuständig. „Es braucht Konzepte, wie dieser Übergang gut begleitet werden kann und dass niemand plötzlich – so wie es jetzt oft der Fall ist – in vieler Hinsicht zu wenig Unterstützung erhält“, fordert die Kinderpsychiaterin. Ebenso fatale Lücken zeigen sich gerade jetzt in Möglichkeiten, intensiver mit Institutionen wie der Kinder- und Jugendhilfe zusammenzuarbeiten – hier fehlen vielfach kooperative Konzepte – sowie im Angebot für junge Menschen mit Behinderung und psychischen Symptomen. Alles Felder, wo noch viel an Weiterentwicklungsarbeit nötig ist. Selbstverständlich müsste aus der Sicht der beiden Expertinnen zudem sein, dass bundesweit einheitlich psychologische und psychotherapeutische Angebote nicht nur Kindern und Jugendlichen mit psychischen Krankheiten auf Krankenkasse – und ohne Selbstbehalt – offenstehen. Auch familientherapeutische Angebote seien für den Blick auf das ganze System notwendig. Psychotherapie auf Krankenkasse ist in Ländern wie Deutschland und der Schweiz selbstverständlich.
„Viel einfacher ist es dort auch, dass sich das Ausmaß der Behandlung an der aktuellen Situation orientiert: In akuten Krisen braucht es individuelle Lösungen mit zwei bis drei Terminen in der Woche und kein Vertrösten auf kommende Wochen. Das österreichische System ist viel zu starr, von Deckelungen und strengen Vorgaben gekennzeichnet!“, appelliert Sevecke an die Gesundheitspolitik.
Auch Judith Noske fordert den Ausbau einer möglichst früh und vernetzt ansetzenden Basisversorgung ein. So fehlen schon lange Kassenstellen für niedergelassene Kinder- und Jugendpsychiater, Termine in Beratungszentren für Kinder und Jugendliche sind auf Monate hinaus völlig überbucht. Dazu kommt, dass die für viele Familien als erste Ansprechpersonen so wichtigen Hausärzte generell wenig Zeit für einfühlsame Gespräche haben – in Pandemiezeiten gilt das umso mehr.
„Dies treibt den Effekt der Drehtürpsychiatrie an: Mangelnde Unterstützung im niedergelassenen Bereich führt zu mehr Krisensituationen, die aber gerade aktuell nur sehr bedingt adäquat aufgefangen werden.“
Ein europaweit einzigartiges Versorgungshemmnis sind die Begrenzungen, die sich durch den Ausbildungsschlüssel beim Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie ergeben: Es gibt für jede Ausschreibung mindestens vier sehr hoch qualifizierte Bewerbungen, es darf aber nur eine bestimmte Zahl aufgenommen werden, „und das, obwohl wir offiziell als Mangelfach anerkannt sind“, wie Sevecke betont.
Quelle: ÖKZ 05/2021 (Jahrgang 62), Springer-Verlag