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Der Ökonom und Psychiater Stefan Brunnhuber plädiert für integrale Medizin. Dies bedeute weniger Maschinenmedizin und mehr vorbeugende „Weisheitsmedizin“. Integrale Medizin sei effizienter und billiger, weil es weniger kranke Menschen gäbe.
Integrale Medizin hat mehrere Komponenten: Sie hat eine subjektive und auch eine institutionelle, eine innere und eine äußere Komponente.
Stefan Brunnhuber: "...Die innere subjektive Komponente ist schlichtweg unser Mindset, unser Bewusstseinsschwerpunkt. Die individuelle äußere Komponente ist unser Verhalten. Das ist die Art und Weise, wie wir unser Verhalten verändern, um zukunftsfähig zu sein. Und auf der institutionellen, gesellschaftlichen Ebene gibt’s auch einen inneren Aspekt, der betrifft unsere Kultur – die Art und Weise, wie wir miteinander umgehen. Und wir stellen uns der Frage, in welchem System findet gesundheitliche Versorgung statt? Wir kommen so zum Bereich der Finanzmärkte und der Anreizstrukturen. Wir tangieren den Bereich der politischen Entscheidungsträger, die Wahlen zu gewinnen haben, und vieles mehr. Alle vier Bereiche, die inneren und die äußeren, die subjektiven und die gesellschaftlichen müssen zusammenwirken, um Medizin integral werden zu lassen."
"Das ist weniger eine Frage der Genetik, sondern eine Frage des Lebensstils. Welche Bedeutung hat die Ernährung, das Stressmanagement, der Schlaf, die Bewegung, der Sport, das Gewicht? Das sind die Faktoren, die jeder Einzelne beeinflussen kann – unabhängig vom Bildungsgrad, unabhängig von der Position, in der er sich befindet. Diese Faktoren liegen in der Eigenverantwortung des Einzelnen."
"Die Forschung hat gezeigt, dass extreme Einkommens- und Wohlstandsunterschiede krankmachende Faktoren einer Gesellschaft sind. Nationen wie Japan oder auch die skandinavischen Länder, in denen die Verteilung von Wohlstand gleichförmiger aufgebaut ist, haben eine geringere Krankheitslast zu tragen als vergleichbare Staaten. Dort werden die Menschen sehr alt – und dies bei hohem Wolhbefinden. Wenn es einen Faktor gibt, der die Gesundheit der Gesellschaft umfassend beeinflusst, dann ist es extreme soziale Ungleichheit."
"Unser Verständnis von Krankheit in der westlichen Welt orientiert sich am Maschinenparadigma. Der Mensch ist eine Maschine mit Beschwerden und Symptomen. Wenn die Akutmedizin gefragt ist oder die Intensivmedizin, wenn Bildgebung, Labor oder chirurgische Eingriffe gefragt sind, ist die westliche Medizin mit diesem Maschinenparadigma unschlagbar. Es gab in der ganzen Medizingeschichte keinen so hohen Versorgungsstandard wie mit westlicher, moderner Akut-Medizin. Und ich würde mir auch nicht vorstellen wollen, in einer anderen Welt leben zu wollen, bei der diese Erkenntnisse nicht jedem auch zugänglich gemacht werden. Wenn allerdings Krankheitsbilder eher chronisch werden, stressassoziiert werden und auf einmal Umweltfaktoren eine Rolle spielen, dann versagt dieses Maschinenparadigma. Und dann müssen wir soziale und ökologische Aspekte, unter Umständen auch spirituelle Aspekte berücksichtigen, und auch den Erfahrungsstand der Weisheitstraditionen. Das bedeutet, das ganz andere Medizin-Systeme zu berücksichtigen sind, die unter Umständen bis zu zehnmal so alt sind wie unser westliches Medizinsystem. Und das nennt man im Kern ‚Integrale Medizin‘."
"Lassen Sie uns unterscheiden zwischen zwei Dingen: Erstens: Wirkt etwas? Und zweitens: Wer finanziert es und für wen wird es zugänglich gemacht? Wir haben in der westlichen Medizin einen Evidenzgrad von höchstens 20 %. Das heißt, 80 % von dem, was ein Kliniker macht, macht er aufgrund seines Erfahrungswissens. Bedeutet nichts Schlechtes, aber seine Handlungen sind nicht im klassischen Sinne wissenschaftlich 1-A evidenzbasiert. Wenn wir sowieso 80 % Erfahrungsmedizin machen, wäre es mehr als fair und zukunftsweisend, geradezu innovativ, wenn wir sagen: Lass uns für einen integralen Ansatz bei den 80 % auch auf den Erfahrungsstand der Weisheitstradition zurückgreifen. Das Maschinenparadigma ist zwar gut, aber nicht in allen Bereichen."
"Ich würde die Frage des Zugangs zum System von der Frage entkoppeln, was innerhalb des Systems angeboten wird. Wir brauchen Universal Healthcare. Zugang zum System sollte jedem Menschen als Grundrecht zur Verfügung stehen. Das haben wir in Österreich und Deutschland auf weiten Strecken gegeben. Was dann innerhalb des Systems behandlungsrelevant ist, hängt natürlich von den Ressourcen des jeweiligen Systems ab. Es kommt auch auf den Diskussions- und Erfahrungsstand des jeweiligen Systems an."
"Es geht bei der Komplementärmedizin zum einen um den alternativen Behandlungsansatz. Und es geht zweitens um den präventiven Ansatz. Drittens geht es um einen Zugang, der in Teilen die Schulmedizin substituiert. Der Zuwachs an Kosten entsteht vor allem durch die Chronifizierung von Erkrankungen und die erhöhte Lebenserwartung durch den Fortschritt innerhalb der Medizin. Das Beharrungsvermögen ist groß: Der Medizinsektor ist in allen westlichen Ländern der größte Einzelmarkt mit 10 bis 15 % der Volkswirtschaft. Der Gesundheitssektor ist der größte Arbeitgeber in allen westlichen Industriestaaten – viel größer als die Automobilindustrie oder chemische Industrie oder das Handwerk."
"Weisheitstraditionen haben auf weiten Strecken einen Präventivcharakter. Die Schulmedizin hat überwiegend einen reparativen Charakter. Wir wissen aus der Wissenschaft, dass Präventivmaßnahmen sehr effizient sind. Das heißt, sie machen mit vorbeugenden Konzepten ein System deutlich billiger. Nicht nur in der Medizin, auch in Umweltwissenschaften. Es ist um den Faktor 10 – 100.000 billiger, ein Naturreservat zu erhalten mit all seiner biologischen Diversität als es platt zu walzen und irgendwo ein Neues zu erbauen. Die Gesundheit zu erhalten ist am Anfang etwas teurer, im Gesamten aber immer billiger."
"Das wird über Steuer und Abgaben-Finanzierung allein nicht gehen. Wir werden präventiv auch die Zentralbanken in der Geldschöpfung miteinbinden müssen, um selektiv auch Staatsfonds zu finanzieren, um zukünftige Schocks zu bewältigen. Die nächste Pandemie, Klimafolgen oder die Auswirkungen der Landnahme mit Zoonosen und ähnliches werden uns extrem fordern. Es ist irrational, alles so weiterzumachen, wie wir es bisher machen."
"Der Zusammenhang ist unstrittig kausal. Den Coronaerreger gibt es seit mehreren Millionen Jahren. Und es wird ihn auch geben, nachdem wir nicht mehr da sind. Und er hat recht gut auf dieser Erde gelebt. So lange, bis die Landnahme von menschlicher Seite immer mehr zugenommen hat und die Distanz zwischen uns und diesem Erreger immer kleiner geworden ist. Schließlich ist er übergesprungen und mutiert. Diese Zoonosen sind Ausdruck unserer Wirtschaftsform. Hätten wir eine andere Wirtschaftsform, wie zum Beispiel Naturreservate auf dreißig Prozent der Erdoberfläche, hätten wir regionale, keine globalen Wirtschaftskreisläufe, dann hätten wir all diese damit verbundenen Kosten nicht. Dies ergibt eine ganz andere Kostenrechnung: Ist vielleicht eine regionale Kreislaufwirtschaft nicht doch billiger als just in time Wertschöpfungsketten, die global zuliefern und bei der nächsten Pandemie wieder einbrechen? Vor dem Hintergrund dieser neuen Herausforderungen können regionale Kreisläufe billiger sein als alles andere."
"Es geht nicht um die Regelversorgung. Es geht um die Finanzierung von zukünftigen Schocks, die unsere Generation ausgelöst, aber nicht bezahlt hat. Wir sind die Zechpreller-Generation. Wir leben weit über unsere Verhältnisse und lagern die Kosten auf die Dritte Welt, auf die nächste Generation, auf die Natur aus. Die Zoonose ist ein Resultat dieser Entwicklung. Aus dieser Nummer kommen wir nicht raus."
"Das Gleiche gilt fürs Klima: Es geht um die Gegenfinanzierung von zukünftig zu erwartenden wissenschaftlich belegten Schocks, die wir jetzt schon ausgelöst haben, für die wir aber jetzt noch nicht die Rechnung bezahlt haben."
"Ich faste viel, ich faste bis zu 130 Tage im Jahr. Ich habe zwei bis drei Bewegungsaspekte pro Woche, ich bin Langzeitmeditierer, ich habe einen sehr restaurativen Schlaf von mindestens 8 bis 9 Stunden jeden Tag. Und ich mache viel Yoga und Krafttraining und ernähre mich gesund. "
Quelle: ÖKZ 6-7/2022, 63. Jahrgang, Springer-Verlag.