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Horst Hahn ist Leiter des Fraunhofer MEVIS Institutes für digitale Medizin in Bremen. Er ist überzeugt, Künstliche Intelligenz könne der Technologieschub sein, der unser Gesundheitssystem bezahlbar hält.
Ja, auf jeden Fall. Das Thema der Künstlichen Intelligenz hat der Aufmerksamkeit noch einmal einen Schub verliehen. Aber es ist nichts grundsätzlich Neues. Die Erforschung der KI in der Medizin hat bereits vor über 30 Jahren begonnen und ist seit acht Jahren ein Topthema.
"Heute kann jeder ChatGPT online spielerisch ausprobieren. Trotz aller Unzulänglichkeiten ist das Programm in der heutigen Version ein beeindruckendes System. Es hat aber ein elementares Problem: Man kann nicht einschätzen, was von den Ergebnissen wahr und was falsch ist. Unter diesen Voraussetzungen ist es für die Medizin-Technik unbrauchbar, denn dafür bräuchte es eine eindeutige Qualitätsdefinition."
"Es kommt immer darauf an, wovon wir reden: Beim heutigen Einsatz von Künstlicher Intelligenz geht es zumeist um Mustererkennung. Seit gut zehn Jahren hat Deep Learning das Feld hinsichtlich Leistungsfähigkeit und Flexibilität revolutioniert. Es existieren aber weitergehende Einsatzmöglichkeiten, in denen die trainierten Systeme selbst lernen. Im Moment liegt die Wahrheit irgendwo zwischen Gamechanger und flankierendem Assistenzsystem. ChatGPT und ähnliche Programme sind ein echter Quantensprung, wenn es um Textverständnis, die Zusammenführung von Informationen und die Ausgabe in einem lesbaren Text geht. Aber Kollegen haben auch sehr rasch die Grenzen des Systems ausgetestet und gefunden. Das komplette Ausmaß der Entwicklung auf verschiedene Bereiche der Gesellschaft, inklusive der Medizin, ist noch nicht zu ermessen. Sicher ist: Der Status quo ist nur eine Momentaufnahme. Die Technologie entwickelt sich extrem schnell."
"Absolut. Aber man muss die Problemebenen trennen. Sprechen wir zuerst über die Forschungsnutzung der Gesundheitsdaten. Zunächst stellt sich die Frage, ob die Gesundheitsdaten überhaupt verfügbar und zugänglich sind. Das ist in vielen Ländern nicht der Fall. Ist der technische Zugang zu den Daten hergestellt, ist zu klären, was man mit welchen Methoden damit anfangen will. Welcher gesellschaftliche Nutzen soll generiert werden? In einer Hinsicht sind wir in Deutschland – und soweit ich weiß, ist Österreich nicht weit entfernt – ganz weit vorne, nämlich wenn es darum geht, den Zugang zu medizinischen Forschungsdaten einzuschränken. Wir sind sehr gut im Verhindern."
"Der Schutz der Privatsphäre hat eine fundamentale Berechtigung. Die Frage ist, wie gut wir unter Einhaltung der Schutzregeln aus den Gesundheitsdaten einen gesellschaftlichen Wert generieren können. Und das ist in Deutschland und Österreich sicherlich schwerer als in anderen Ländern der Welt. Die USA verfügen über einen extrem strengen Datenschutz mit sehr hohen Vertragsstrafen. Aber in der dortigen Gesetzgebung herrscht viel größere Klarheit, wie mit dem Anspruch auf Vertraulichkeit umzugehen ist und welche Kriterien genau zu erfüllen sind. Diese Umstände sind in Deutschland Auslegungssache, die noch dazu länderspezifisch unterschiedlich gehandhabt werden. Dies ist auch ein Grund, warum die digitale Infrastruktur in Deutschland – und ich vermute auch in Österreich – nicht so stark ausgebaut ist wie zum Beispiel in Dänemark, Schweden oder Estland."
"Der gesellschaftliche Wert kann vielfältig sein. Kann ich Gesundheitsdaten mithilfe von Mustererkennung so weit analysieren, dass ich Hinweise erhalte, welche Therapie bei welcher Diagnose erfolgsversprechend ist? Wie kann ich unwirksame Therapien früher als solche erkennen? Das wäre dann ein gesellschaftlicher Wert."
"Die Komplexität der Fragen und Erkenntnisse hat in der Medizin ein Maß erreicht, das weit über das menschliche Fassungsvermögen hinausgeht. Die Anzahl der Parameter, die wir miteinander korrelieren müssen, um systematisch die Wirksamkeit einer bestimmten Therapie zu untersuchen, beträgt nicht zwei, drei oder vier, sondern oftmals dutzende oder sogar hunderte. Mit den Methoden des maschinellen Lernens hat die Forschung ein Werkzeug in der Hand, mit dem sie eine riesige Menge an Daten auf Zusammenhänge prüfen kann. Und wenn die Menge der verwendeten Trainingsdaten repräsentativ für die Fragestellung ist, dann kann man daraus auch belastbare Aussagen ableiten. Das wird uns einen gewaltigen Fortschritt bescheren."
"Ich gehe davon aus, dass die Prostatakrebs-Früherkennung ein solches Gebiet sein wird. Wir verfügen jetzt über Systeme, die eine Prostatafrüherkennung deutlich treffsicherer machen. Wenn bei einem Mann aufgrund seiner Blutwerte eine nähere Untersuchung angeraten ist, dann wird man künftig in der nächsten Stufe auf eine Magnetresonanz-Bildgebung zurückgreifen. Diese Untersuchung ist für den Patienten harmlos, da sie mittlerweile auch ohne Kontrastmittel möglich ist. Aber die Beurteilung ist durchaus komplex und erfordert viel Erfahrung. Die KI-Lösungen, die in den nächsten Jahren auf den Markt kommen werden, diagnostizieren das frühe Prostatakarzinom in diesen Bilddaten im Durchschnitt so gut wie ein erfahrener Radiologe. Es wird in der Zukunft kaum mehr vertretbar sein, derart gute KI nicht einzusetzen. Dasselbe gilt für die Beurteilung der Gewebeproben durch den Pathologen."
"Ja, natürlich wird das spürbare Auswirkungen haben, und es gibt einige sehr positive Aspekte. Aber wir dürfen nicht von der idealen Situation ausgehen. Ich möchte zunächst eine Warnung aussprechen. Wenn Patientinnen und Patienten anfangen, sich ohne professionelle Hilfe zu einem Symptom oder einem Körpergefühl zu informieren, ist die Chance in dem Moment sehr hoch, dass sie auf Informationen stoßen, die weit schlimmer klingen, als es die Gegebenheiten hergeben. Ein Arzt meinte zu mir mal, sobald die Patienten Doktor Google befragen, haben sie alle Krebs. Eigenrecherchen bergen die Gefahr, unbegründete Angst zu erzeugen."
"Das ist eine Überspitzung. Aber Fakt ist, dass auf bestimmten Seiten im Netz jeder alles schreiben kann. Es kursieren gerade bei Gesundheitsthemen etliche nicht wissenschaftlich gesicherte Informationen. Das haben wir in der Impfdiskussion erlebt. Aber sicher ist: Die Menge an Gesundheitsinformationen und verfügbaren Gesundheits-Apps wird weiter zunehmen. Es wird dabei Anwendungen geben, die auf rein privater Initiative basieren, und es wird Anwendungen geben, die der Staat und das Gesundheitssystem zur Verfügung stellen und qualitätsgesichert sind. Und KI wird diesen Prozess beschleunigen."
"Die KI-Systeme sind noch nicht auf einem Niveau, dass man mit irgendeinem dieser Werkzeuge tatsächlich auf den großen, weltweiten Wissensschatz zurückgreifen könnte. So weit sind wir nicht. Und wir müssen auch einräumen, dass das digital kodierte Wissen Grenzen hat. Daher brauchen wir auch die Ärztin oder den Arzt, die die Zusammenhänge herstellen. Es ist ja nicht nur wichtig, welche Diagnosen und Therapien entsprechend der aktuellen Evidenz richtig oder falsch sind, sondern es spielen auch andere Themen eine Rolle, wie: Welche Risiken sind die Betroffenen bereit einzugehen? Es gibt in jedem Arzt-Patienten-Verhältnis einen Dialog, den kein KI-gestütztes Programm ersetzen soll oder kann."
"Das wäre mein Wunsch. Die KI-gestützten Systeme sind Hilfsmittel, die den Gesundheitsdienstleistern helfen, in den wenigen Minuten, die sie im Durchschnitt pro Patient Zeit haben, bestmöglich zu diagnostizieren und die passende Therapie zu entwickeln. Dafür sind die Werkzeuge da, und nicht dafür, dass man sich privat seine Diagnose holt und vielleicht gar nicht mehr zum Arzt muss. Wissen Sie, wie bereits gesagt hat jede KI auch ihre Grenzen – genauso wie das derzeit gesicherte Wissen. Und es ist ärztliche Aufgabe, an diesen Grenzen über die Chancen und Unsicherheiten aufzuklären und den Patientenwunsch zu berücksichtigen."
"Auf jeden Fall. Es bestehen heute schon etliche Netzwerke, die sich genau mit diesen Fragen der seltenen Erkrankungen befassen. Und ich erwarte, dass wir dort sehr bald auch digitale Kooperationen haben werden, die länderübergreifend Daten zur Verfügung haben. Ich erwarte für die nächsten Jahre in dem Bereich sichtbare Ergebnisse. Ein anderer Bereich, den ich auch sehr spannend finde, ist die Früherkennung. Nicht jede Krankheit ist frühzeitig zu erfassen. Und bei jenen, bei denen der Ansatz funktioniert, stellen sich die Fragen: Wie treffsicher ist die Früherkennung, wie aufwendig ist die Behandlung, mit welchen Nebenwirkungen muss gerechnet werden? Und es stellt sich eine weitere zentrale Frage: Wie gefährlich ist die heranziehende Krankheit tatsächlich? Ist das, was gefunden wird, zu Lebzeiten des Menschen überhaupt bedrohlich? Mit dem Einsatz von KI lässt sich durch Zusammenschau mehrerer Parameter eindeutiger differenzieren, was eine relevante und was eine nicht relevante Auffälligkeit ist. Wir können unsere Diagnosekriterien schärfen. Und das eröffnet die Türe für ein viel präziseres Früherkennungsmanagement auch in Bereichen, in denen bislang Früherkennung scheitert."
"Natürlich. Die Bevölkerung in Österreich und Deutschland ist nicht identisch strukturiert wie die in Nordamerika oder in der Subsahara – trotz der natürlich vorhandenen Ähnlichkeiten. Es ist sehr sinnvoll, Forschungsergebnisse jeder Provenienz maschinen-lesbar zu kodieren und auswertbar zu machen. Daran wird gearbeitet. Der Austausch kann über eine Art Föderation von sicheren Daten-Zentren abgewickelt werden, wo die Ausgangsdaten lokal und geschützt bleiben. Die Muster-Ergebnisse, also die in den Daten steckenden Erkenntnisse, werden abstrahiert, sodass sie nicht mehr auf einzelne Patienten zurückführbar sind, und über die Zentren hinweg global zur Verfügung gestellt. Wir nennen dies föderiertes Lernen."
"Es gibt sehr große Arbeitsgruppen, die in diesen Feldern den Takt mit angeben. Und wenn die beschließen, wir machen eine Generalpause, dann wäre es denkbar, dass die Idee von Herrn Musk umgesetzt wird."
"Was ich mir wünsche für die Medizin, sind digitale Werkzeuge, die sehr solide entwickelt sind und auf vernetzte, digitale Infrastrukturen aufbauen. Ich bin mir sehr sicher, dass die KI-getriebene Weiterentwicklung der Technologie notwendig ist, um die Gesundheitsversorgung mit ihren wachsenden Anforderungen weiter zu gewährleisten. Und sie ist notwendig, um die Medizin auf dem hohen Niveau überhaupt noch weiter bezahlbar zu halten. "
Quelle: ÖKZ, 64. JG, 5/2022, Springer-Verlag.