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Artificial Intelligence verändert den Ärzteberuf von Grund auf. Wer den Wandel ignoriert, wird von den Patienten abgestraft. AI-Forscher verlangen Vorgaben, wie die Vorteile der neuen Technologie eingesetzt werden. Sonst nutzt die neue Intelligenz nur den Bilanzen.
Wenn Vinod Khosla behauptet, dass 80% der Ärzte durch Maschinen ersetzt werden können, dann ist dies mehr als eine Provokation. Vinod Khosla ist so etwas wie ein in die Jahre gekommener Elon Musk. Der 68-jährige US-Investor mit indischen Wurzeln ist Mitbegründer und Ex-CEO von Sun Microsystems, einem der ersten Software-Riesen des IT-Zeitalters. Nach dem Verkauf seiner Anteile stieg Khosla in den Neunzigerjahren dick in das Geschäft mit Risikokapital ein. Seine Lieblingsbranchen: Datengetriebene Start-ups und Öko-Unternehmen, am besten beides in einem.
Der Milliardär – Forbes setzte ihn 2020 in seiner Liste der reichsten Menschen der Welt auf Nummer 353 – scheute bei seiner Keynote bei einem Ärztekongress in San Francisco keinen Widerspruch, als er behauptete, dass es für Patienten besser wäre, die Diagnose von einer Maschine als von Ärzten zu erhalten. Ein gutes maschinelles Lernsystem wäre „nicht nur billiger, genauer und objektiver“, sondern würde auch effektiv 80% der Mediziner ersetzen, einfach weil „es besser als der durchschnittliche Arzt wäre“. Und er behauptete steif und fest, dass die Programmierung solcher Systeme ein einfach zu lösendes Problem wäre. Vinod Khosla hielt diese Rede 2012.
Felix Nensa zuckt bei der Ansage mit den Schultern. Er zitiert Geoffrey Hinton, den kanadischen Informatiker und Paten der Artificial Intelligence, der einmal prophezeit hatte, dass es in fünf Jahren keine Radiologen mehr brauche. „Ich habe mir das Datum notiert. Als heuer die Frist abgelaufen ist, wollte ich ihm schreiben“, hört sich Nensa leicht verstimmt an. Letztendlich sei es ihm aber „zu doof geworden“. Der Kanadier hätte als Informatiker Großes für die KI geleistet, „aber von Medizin hat er keine Ahnung“.
Felix Nensa ist Radiologe und ausgebildeter Informatiker, ein Digital Native, der schon während seiner Unizeit eine IT-Firma mitgründete. Seit letztem Jahr ist der 42-Jährige auch Professor für Radiologie mit dem Schwerpunkt Künstliche Intelligenz an der Medizinischen Universität Duisburg-Essen. Nensa ist in Sachen medizinischer KI das, was der alte Warren Buffett für die Jünger der arbeitsfreien Geldvermehrung darstellt: ein Orakel. Wer eine pointierte Meinung zum technischen Klinikalltag im Jahr 2035 haben will, läutet bei ihm an. Für seinen medizinischen Berufsstand sieht er eine bessere Zukunft als seine Kollegen von der Datenfakultät: „Wenn wir in Zukunft 80 Prozent der Ärzteschaft nicht mehr brauchen, dann wird es auch keine Rechtsanwälte, keine Finanzinvestoren und nur mehr einen Bruchteil der Informatiker geben.“ Ein Szenario der arbeitslosen Ärzte sei absurd. Im Gegenteil: Die Berufsaussichten der Mediziner würden attraktiver, weil „die Arbeit interessanter wird. Die leeren Kilometer werden von der AI erledigt.“
Vinod Khoslas Prophezeiung vom Ende des Heilberufes wird wenig ernst genommen. Der zweite Teil seiner Voraussage von vor elf Jahren hingegen schon: Qualität und Leistungsfähigkeit automatischer Lernsysteme übertreffen menschliche Kompetenzen. Das werde den Beruf des Arztes und der Ärztin von Grund auf verändern. Für Christoph Bock, Professor für medizinische Informatik an der MedUni Wien, ist „Präzision ein Wesensmerkmal von AI. Und es wird nie müde.“ Speziell im Monitoring und Überwachungsbereich leisten neuronale Netze „Übermenschliches“, lässt sich der Informatiker auf ein Wortspiel ein. Ideen wie die „Intensivstation zu Hause“ oder smarte Wearable Devices seien durch AI-Systeme erst möglich geworden. Ängste vor dem Fehlerteufel hält er für „menschlich, aber übertrieben“. Die Flugzeugindustrie würde beweisen, dass Maschinen sicher gemacht werden können. „Alles eine Frage der Qualitätskontrolle und der zugrundeliegenden Daten“, wie Bock versichert.
Jochen Werner teilt die Sicht seines jungen Professorenkollegen aus Wien. Er ist sogar deutlich euphorischer in seinem Urteil, was die Zuverlässigkeit von AI-Systemen anbelangt. „Wir brauchen mehr Künstliche Intelligenz in den Kliniken und weniger den Faktor Mensch.“ Werner ist kein Misanthrop. Jochen Werner ist Ärztlicher Direktor der Uniklinik Essen und Antreiber der Idee des Smart Hospital. Er war es, der vor vier Jahren den jungen Radiologen Nensa zum Leiter der Arbeitsgruppe „KI und intelligente Krankenhausinformationsplattform“ berufen hatte.
Denn die Fehlerquelle wandle auf zwei Beinen. „Der Mensch ist das Hauptrisiko in jeder Klinik“, wettert Werner, „denken Sie nur an die Fehldiagnosen, die wir jeden Tag in der Klinik haben. Wir reden nur nicht darüber.“ Es sei ihm lieber, „jemand im dritten Weiterbildungsjahr untersucht mich mit Hilfe einer digitalen Entscheidungshilfe als ein Mediziner im vierten Berufsjahr, der Angst vorm Oberarzt hat.“
Die Vorteile KI-basierter Diagnostik seien „heute und in Zukunft unverzichtbar“: KI-Prognosen werden helfen, künftige Gesundheitsrisiken abzuschätzen. „Da bekommt das Wort Prävention eine völlig neue Bedeutung“, so Werner. Er schwärmt von KI-Systemen, die aus einer 1-Kanal-EKG-Ableitung bestimmte Rhythmusstörungen Wochen vorher ankündigen, bevor sie auftreten. „Wollen Sie mit einem Kardiologen zu tun haben, der sich um derart neumodisches Zeug nicht kümmert?“, wird der Essener Professor rhetorisch. In Werners Welt hat der Mensch andere Aufgaben. „Wir brauchen mehr Ärztinnen, Ärzte und Pflegende, wenn es um Empathie, menschliche Aufmerksamkeit und Zuwendung geht. Das ist, was Menschen können. Und trotzdem erhält dies heute kein Patient mehr.“
Künstliche Intelligenz oder Artificial Intelligence – der englische Ausdruck wird von vielen Experten bevorzugt, weil mehr von Information und weniger von (menschlicher) Intelligenz die Rede ist – ist in Spitälern und Praxen nicht neu. So gehören AI-basierte Bilderkennungsverfahren seit Jahren zu den Werkzeugen innovativer Röntgenabteilungen. „Innovationen werden sichtbar, wenn sie leicht zu bedienen und leistbar sind“, weiß Tobias Heimann, Leiter des Bereichs Artificial Intelligence bei Siemens Healthineers. Seine Beschreibung spielt auf den Welterfolg von sprachgesteuerter AI an. ChatGPT sei in der breiten Wahrnehmung zum Gamechanger geworden, weil Gratis-Downloads und die einfache Bedienbarkeit die sprachgesteuerte AI zum Mainstream machten. „Und jetzt fragt sich die ganze Welt, was alles möglich ist“, stellt Heimann fest. Die Produkte seines Unternehmens – unter anderem CT-Scanner und Röntgen-Anlagen – fallen zwar nicht unter die Kategorie wohlfeil, aber das Prinzip der einfachen Bedienbarkeit gilt auch dort. Dabei sind CTs hochkomplexe Apparaturen mit dutzendfachen Einstellungsparametern. „Das macht bei uns das Gerät per Knopfdruck“, erzählt der Informatiker. Der Scanner kann mit KI pro Tag deutlich mehr Patienten untersuchen. Und die simple Bedienbarkeit der HighTech-Maschinen reduziert Lernaufwand und Qualifikationsanspruch des Personals – in Zeiten akuter Fachkräftenot eine wichtige Eigenschaft.
Aktuell entwickelt Heimanns Team ein AI-Tool zur Labordiagnostik. Auf Basis vieltausender Laborwerte wird nach einem Blutmarker gesucht, der die Wahrscheinlichkeit berechnet, mit der spezielle Krebsarten auftreten. Artificial Intelligence identifiziert die Historie von Blutproben, bei denen bekannt ist, dass später Krebsmutationen aufgetreten sind. Ein Abgleich mit dem Blutbild des Patienten soll Hinweise liefern, wie hoch sein Risiko ist, in Zukunft an diesen Krebsarten zu erkranken.
Noch ist es nicht soweit: Eine der Hürden in der Entwicklung der AI ist „der Aufbau des Datenpools“, erzählt Heimann. Das Einsammeln der Blutwerte in standardisierten Datenformaten ist eine komplexe methodische Herausforderung. Denn die Gestaltung des Datenpools definiert die Welt, aus der die AI ihre Lehren zieht – und deren Qualität. „Blutwerte aus einer Region, einem Land oder auch aus einem Kontinent repräsentieren nicht die ganze Welt“, erklärt Heimann. Muster, die in einer speziellen Umgebung auftreten, müssen sich nicht zwingend bei Probanden anderer Bevölkerungsgruppen widerspiegeln. Das Problem der Daten-Repräsentativität treibt jeden AI-Forscher um.
Es ist aber nicht die einzige ungelöste Grundsatzfrage: Jens Meier beschäftigt eine weitere Herausforderung: „Was machen wir mit dem Wissen?“ Meier ist Professor für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin am Kepler Uniklinikum in Linz. Er setzt sich seit Jahren intensiv mit den Chancen von medizinischer Artificial Intelligence auseinander. Aktuell arbeiten er und sein Team an einem Prognosetool, um mithilfe von Biosignalen wie Blutdruck oder EKG den weiteren Krankheitsverlauf des Patienten vorherzusagen. Ein weiteres Projekt setzt sich mit der Narkosetiefemessung der Patienten auseinander. Dabei wird über Hirnwellenaktivitäten berechnet, ob Reize wie Blitze oder Töne ins Bewusstsein des narkotisierten Patienten vordringen. Ein anderer Schwerpunkt von Meiers AI-Forschung liegt in der Risikoabschätzung von Operationen: Welche Heilungschancen hat der Patient bei schweren Eingriffen? Seine AI liefere aufgrund der trainierten Erfahrungswerte „präzisere Scores als üblich“, ist der Intensivmediziner selbstsicher. Schwierig werde es, wenn die Software ein gesteigertes Risiko ausweist. „Wie erkläre ich dem Patienten, dass eine KI für ihn eine schlechte Prognose errechnet hat? Wie beschreibe ich die Konsequenzen, wenn er nicht operiert wird?“ Letztendlich gelte es dem Patienten zu vermitteln, dass eine „Künstliche Intelligenz“ von der Operation abrät. Entscheidet der Mensch oder die Maschine? Jens Meier verweist auf den Ärztevorbehalt, dass es immer Arzt und Ärztin sind, die die Heilungsmaßnahmen verantworten. Er verfügt aber auch über eine weniger verblümte Antwort: „KI-gefütterte Schachcomputer sind dem Spiel des Menschen haushoch überlegen. Wieso soll dies bei den Risikoberechnungen im Spital anders sein?“
Die Translation – die Umsetzung der neuen Technologie im medizinischen Alltag – geht für viele AI-Aktivisten zu zögerlich. Denn die Geschwindigkeit des Wandels ist atemberaubend. Selbst Insider wie der Siemens Healthineers-Experte Tobias Heimann zeigen sich überrascht. „Ich hätte ein Jahr vor dem Start von ChatGPT nicht geglaubt, dass eine Sprach-AI bereits so weit ist.“ Es sei schwer, auf dem Laufenden zu bleiben. Klinik-Chef Jochen Werner will daher mehr Information über AI beim Patienten sehen: „Die Menschen müssen verstehen, welche neuen Möglichkeiten wir haben. Und sie sollen diese einfordern.“ Werner nennt dies „Ermächtigung“. Er hat dazu ein ganzes Buch geschrieben: „Der smarte Patient“. Werners These: Nur der informierte Patient erzeugt den Druck, den der Umbau des Gesundheitssystems braucht. Auf die Politik zu warten, dauere zu lange. Dies gelte auch für die Kollegenschaft: „Wer sich mit den Innovationen nicht auseinandersetzt, wird von den Patienten und den Mitarbeitern abgestraft.“ Das fange bei suboptimal verwalteten Terminen in den Ordinationen an und ende bei ungenutzten Parkplatzkapazitäten in den Kliniken, die nicht „smart“ gemanagt werden.
Felix Nensa nennt es die „Vermenschlichung der Medizin“. Abläufe, die heute den Begriff der „Apparatemedizin“ nähren, werden zunehmend von AI-gesteuerten Prozessen erledigt – ohne großes Zutun des Menschen. Die Idealvorstellung ist, dass Arzt, Ärztin und Pflegende wieder mehr Zeit zum Zuhören bleibt. Der Patient rücke wieder als Mensch in den Mittelpunkt der Medizin. Der Wiener Medizininformatiker Christoph Bock teilt die Hoffnungen, bleibt aber zurückhaltend: „Im günstigsten Fall werden die Effizienzgewinne durch AI für mehr Zeit mit den Patienten verwendet werden.“ Skepsis schwingt mit, wenn er sagt: „Da muss im Gesundheitssystem aber einiges zusammenspielen, damit dieser Wunsch wirklich wahr wird.“ Tatsächlich haben in der Vergangenheit die Effizienzgewinne in der Medizin dazu geführt, dass mehr Patienten durch die Ordinationen geschleust werden oder – in den Kliniken – mehr Arbeit mit weniger Menschen erledigt wird. Es gelte, dies durch Regulatorien zu verhindern. Bock ist überzeugt: „Die Steuerung des Wandels wird eine grundlegende Voraussetzung, dass die Vorteile der AI zum Tragen kommen.“ Ließe man die Entwicklung ohne Rahmenbedingungen laufen, dann werde „das Risiko groß, dass sich die Diskrepanzen in der Medizin und in der Gesellschaft erhöhen“. Für Investor Vinod Khosla kein Grund, an der Überlegenheit der Maschinen zu zweifeln: „Unternehmer müssen Technologien entwickeln, die Mediziner davon abhalten, wie ‚Voodoo-Ärzte‘ zu praktizieren.“
Quelle: ÖKZ, 64. JG, 11/2023, Springer-Verlag.