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Sie sollte die Patientensicherheit erhöhen. Jetzt zeitigt die MDR-Leitlinie eine Masse an unerwünschten Nebenwirkungen: Innovative Start-ups verlassen Europa, margenarme Artikel verschwinden vom Markt, Konzerne nehmen Nischenprodukte aus dem Regal. Und niemand interessiert’s.
Er sagt es selbst. Es ist „ein Problem, wenn ein Physiker Ärzten von Krankheiten erzählt“. Sascha Ranftl tut es trotzdem. Weil er es kann. Der Grazer ist Doktor der theoretischen Physik, was jeden Fan amerikanischer Sitcoms laut aufschreien lässt. Und er ist Mitbegründer des Start-ups Arterioscope. Das im Sommer 2023 gegründete Unternehmen entwickelt Computersimulationen, die auf Basis von KI Muster in Gesundheitsdaten analysieren. In einem ersten Fokus haben sich Ranftl und seine Mitbegründer auf Prognosen der Aortendissektion spezialisiert. Dabei handelt es sich – sehr vereinfacht – um einen Bluterguss in der Gefäßwand der Aorta. Blut dringt in die Gefäßwand ein, spaltet diese und formt eine Ausstülpung. Platzt die Blase, droht der Patient innerlich zu verbluten.
Wird der Einriss frühzeitig entdeckt, muss der Mediziner entscheiden, ob eine Operation notwendig ist oder die Erkrankung mit Medikamenten behandelt werden kann. Die Therapiewahl stützt sich bislang auf bildgebende Verfahren und das, was man „ärztliche Erfahrung“ nennt: Aber selbst mithilfe modernster Computertomographie ist nur sehr selten eindeutig feststellbar, ob eine „stabile“ Aortendissektion auch stabil bleibt, ob sie akut wird und wann sie akut wird. Die Software von Arterioscope durchforstet die EKG-Daten der Patienten und prognostiziert auf Basis von Blutströmung und mechanischen Gefäßdrücken, mit welcher Wahrscheinlichkeit die Gefäßwand reißt oder nicht. Die Software unterstützt den Arzt bei seiner Entscheidung, ob das Risiko einer Gefäßruptur das Risiko eines chirurgischen Eingriffs rechtfertigt oder nicht.
Die Arterioscope-Software leistet Hilfestellung für den Arzt und erfüllt keinen therapeutischen Zweck. Und trotzdem ist sie ein Fall für die Medizinprodukterichtlinie MDR – und zwar aus der Risikoklasse IIa. Das bedeutet: Wenn Sascha Ranftl jemals mit seiner Entwicklung Umsätze machen will, braucht er die Zertifizierung einer Benannten Stelle, im Auditorenjargon Notified Body oder NoBo genannt. Diese fordert eine mehrtausendseitige technischen Dokumentation der Unternehmensabläufe – und zwar bis hinein in die Anfänge der Dissertationszeit. Die MDR-Richtlinie sieht für die Risikoklasse IIa außerdem den Leistungsnachweis in Form einer klinischen Bewertung vor. Die Hersteller müssen Daten bereitstellen, die entweder durch klinische Prüfungen am Menschen oder durch andere klinische Studien gewonnen wurden. Ranftl rechnet – Stand heute – mit 200 bis 300 Probanden, an denen die Funktionsfähigkeit und Unbedenklichkeit seiner Entwicklung einwandfrei nachgewiesen werden muss. Nach der alten, bis 2017 geltenden MDD-Leitlinie wäre dies für den künftigen Software-Anbieter nicht notwendig gewesen. „Als wir das erste Mal verstanden haben, welche Hürde sich da vor uns aufbaut, haben wir ernsthaft überlegt, ob wir unsere Gründungsidee nicht besser fallen lassen“, erinnert sich Ranftl an den ersten Termin mit einem Zertifizierungsspezialisten.
Der „aus dem Nebel auftauchende Berg“ hat Ranftl und seine Mitgründer bewogen, mit ihrem Produkt zuerst die Zulassung bei der US-Behörde FDA anzustreben und in den US-Markt einzusteigen. Dort herrsche die Vorgabe, dass es von „submission to decision“ – also vom Antrag bis zur Entscheidung – nicht länger als 185 Tage dauern dürfe. „Da haben wir Planungssicherheit.“ Das Hauptproblem der europäischen Regulatorien liege in ihrer Langwierigkeit: „Ich kann einem Investor kaum erklären, dass wir trotz fertigen Produktes noch ein Jahr ohne Umsätze überbrücken müssen.“ Gründungen in der Medizintechnik hätten es bei Geldgebern immer schon schwer gehabt, „aber was seit der MDR-Einführung abgeht, das versteht keiner“. Nicht nur deshalb nennt er die neuen EU-Leitlinien „Innovationskiller“ und „eine Bedrohung für den Standort Europa“.
Die Medical Device Regulation MDR steht für Patientensicherheit. Die EU-Leitlinie ist die Reaktion auf den sogenannten Silikon-Skandal, der im Jahr 2010 aufflog: Das französische Unternehmen Poly Implant Prothèse PIP hatte jahrelang billiges Industriesilikon für die Produktion von Brustimplantaten verwendet. Nach Angaben der französischen Behörden hat das Unternehmen, um Kosten zu sparen, für die meisten Implantate nicht das ursprünglich dafür vorgesehene Silikon-Gel verwendet, sondern ein billiges Industriesilikon. Bei Prüfungen der AFSSAPS (L‘agence française de sécurité sanitaire des produits de santé), die für die Sicherheit von Medizinprodukten zuständige französische Behörde, wurde vorsätzlich das medizinische Silikon-Gel vorgelegt, aber Industriesilikon vertrieben. Das minderwertige Produkt kostet den Hersteller nur ein Zehntel und brachte PIP eine Ersparnis von rund einer Million Euro im Jahr – das Risiko von Rissen und einer damit einhergehenden Entzündung ist dafür umso höher. Insgesamt hat das Unternehmen aus Südfrankreich nach eigenen Angaben zwischen 1992 und 2010 mehr als 200.000 Brustimplantate verkauft. Der Tod von zumindest drei Frauen und mehrere Krebsfälle waren die Folge. Die EU stand unter Druck und beschloss, ein strenges Regulativ zu entwickeln, das ähnliche Gaunereien in Zukunft verhindern soll.
Gemeinsam mit ihrer Schwester-Verordnung IVDR – diese regelt die Zulassung für die zahlenmäßig kleinere Gruppe von Medizinprodukten für Laboruntersuchungen – soll die MDR sämtliche Sicherheitslücken schließen. Die beiden EU-Gesetze sind seit 2021 gültig. Der Anwendungsbereich der MDR und IVDR wurde dabei deutlich ausgeweitet. So waren Zellstofftupfer unter der alten MDD Klasse-I-Produkte. Sie sind es noch immer, jedoch muss der Hersteller jetzt ein komplettes Qualitätsmanagementsystem nach ISO 13485 vorweisen. Produkte zur Empfängnisförderung waren zur Zeit der MDD gar kein Medizinprodukt und sind nun ein Erzeugnis der Risikoklasse IIa mit Pflicht zur technischen Dokumentation und zum Leistungsnachweis. Anni Koubek, Geschäftsführerin der QMD Services GmbH, ist Chefin der einzigen österreichischen Benannten Stelle nach IVDR und – bei Redaktionsschluss noch in Erwartung – nach MDR-Leitlinien und weiß um die Sorgen der Unternehmen. „Hersteller mit etablierten Qualitätsmanagement-Systemen verstehen besser, was eine technische Dokumentation verlangt.“ Wer noch nie mit Audits und Standards zu tun hatte, steht vor einer steilen Lernkurve.
„Wir haben mit der MDR gar keine Probleme“, raunte ein Konzernmanager am Rande eines Kongresses zur ÖKZ. Sein Unternehmen sei strenge Zulassungsprüfungen gewohnt. „Bei uns steht der Aufwand der Marktzulassung immer auf der Rechnung.“ Eigene Abteilungen für regulatorische Fragen ebnen in seinem Unternehmen den Weg zum Markt. Er beobachte aber, dass „kleine Firmen mit frischen Ideen viel früher für Beteiligungskapital anklopfen als vor der MDR“.
Die Nebenwirkungen der MDR sind für kleine und mittlere Unternehmen ungleich unverträglicher als für große Unternehmen. Denn der organisatorische und zeitliche Aufwand einer MDR-Zulassung ist für Kleinproduktionen so hoch wie für die Massenfertigung (nur die Kosten für den Notified Body werden teilweise nach Stückzahlen berechnet). Am Markt führt dies zu jener Art von Schieflage, die mehr Nebeneffekt als Absicht ist: Große Unternehmen überspringen die MDR-Hürde aus dem Stand, kleine und mittlere Unternehmen müssen mehrere Ehrenrunden drehen – oder verweigern überhaupt. „Am Ende stehen wir vor einem Brain Drain, weil innovative Unternehmen auf jene Märkte gehen, die einen einfacheren Eintritt erlauben“, so Tibor Zechmeister, Unternehmensberater und – sic – MDR-zertifizierter Auditor einer Benannten Stelle in Slowenien. Er werde von Klienten oft gefragt, ob der Eintritt in den asiatischen oder amerikanischen Markt für den Businessplan nicht geeigneter sei. „Ich sage es nicht gern. Aber ich muss oft dazu raten.“
Die Patientensicherheit profitiere nicht von den verschärften Regularien: „Der Silikon-Skandal hat gezeigt: Es interessiert Kriminelle nicht, welche Leitlinien die EU erlässt.“ Die betroffenen Branchenunternehmen – vor allem die kleinen – würden immer stärker nach Ausweichszenarien suchen: „Damit verlieren wir in Europa innovative Start-ups und verringern das Produktsortiment der angestammten Hersteller.“ Zudem sei die normative Qualität der MDR „unterdurchschnittlich. Wir leben seit 2017 in der neuen Zeit und die Unternehmen haben immer noch keine verlässlichen Vorgaben, wie die Leitlinien erfüllt werden sollen.“ Er sähe auch keine Anzeichen, „dass die Kommission nach einem besseren Kompromiss zwischen Patientensicherheit und Wirtschaft sucht“. Sprich: Die MDR-Wirklichkeit bleibt, wie sie ist.
Antonia Riva-Frizberg hat vor zwei Jahren gemeinsam mit dem Physiker Christian Neubauer Lumetry-Diagnostics gegründet. Das Grazer Unternehmen entwickelt eine Methode zu Atemgasanalyse, das Lungenpatienten mit hyperkapnischer COPD erlaubt, ihre Krankheit zuverlässig in den eigenen vier Wänden zu überwachen. Lumetry bringt einen High-End-Kapnometer mit KI-Algorithmen auf den Markt, der den Kohlendioxidgehalt in der Atemluft während des Atmungszyklus misst. Das Gerät wird mit einer benutzerfreundlichen App kombiniert, um sofortige Ergebnisse auf dem Smartphone, Tablet oder Desktop bereitzustellen. Aus MDR-Sicht ist die Verbindung von Hard- und Software in etwa so anheimelnd wie die letzte Hochzeit von Richard Lugner.
Antonia Riva-Frizberg hat den Zulassungsprozess bereits gestartet. Lumetry hat bereits den Antrag nach Risikoklasse II bei einer Benannten Stelle im fremdsprachigen Ausland gestellt – dies bedeutet, die gesamte Dokumentation in Englisch zu halten. Jetzt geht es in die Einreichungsphase. Lumetry wird nach langem Abwägen den ersten Schritt in Europa wagen – trotz MDR. „Die FDA hätte den Vorteil des Fast-Track-Verfahrens mit beschleunigtem Markteintritt. Aber wir starten dennoch aus strategischen Gründen in der EU.“ Der kostenintensive Aufbau neuer Vertriebs- und Servicestrukturen in Übersee sowie bestimmte Zielgruppeneigenschaften hätten dem Binnenmarkt den Vortritt gegeben. „In die USA und andere Emerging-Markets gehen wir den nächsten Schritt“, so Riva-Frizberg. Jetzt sei es wichtig, so schnell wie möglich Umsätze zu schaffen. Da sei die Wartezeit auf die Zulassung ein „Bremsklotz“. Riva-Frizberg geht davon aus, dass „nach der Einreichung aller Dokumente noch 16 Monate vergehen, bis wir operativ werden dürfen“.
Unternehmen, die ihre Unterlagen nur in Deutsch zur Verfügung haben, würden durch die beschränkte Auswahl an deutschen und österreichischen „Prüfstellen noch mehr Geduld benötigen. Die Vorbereitungszeit für die Erstellung der Dokumente haben rund 1,5 Jahre betragen. Da hat sich jeder von uns voll engagiert.“ Jeder bedeutet, dass alle zehn Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Lumetry-Teams gefordert waren, den eigenen Zuständigkeitsbereich MDR-würdig zu dokumentieren. Antonia Riva-Frizberg schätzt, dass dies über die langen 18 Monate der Vorbereitung gerechnet der Personalkapazität von 1,5 Vollzeitstellen gleichkommt.
Quelle: ÖKZ 2/2024, 65. Jahrgang, Springer-Verlag