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Gute Ansätze mit Ent­wicklungs­bedarf

22. Februar 2020 | Gabriele Vasak
Junger Pflanzenspross
Junger Spross

Die neue Regierung hat die Pflege als eines der ersten Vorhaben in Angriff genommen. Die ÖKZ befragte zwei Pflegeexperten um ihre Meinung und weiterführende Ideen zu diesem Kapitel im Regierungsprogramm.

Es ist ein Thema, an dem keine Regierung vorbeikann. Dementsprechend hat auch Türkis-Grün die Pflegereform als eines der ersten Vorhaben erwählt. Die anstehenden Probleme sind gravierend.

Denn: Die Zahl der pflegebedürftigen Personen in Österreich steigt und steigt, gleichzeitig rechnen alle Experten mit einem Rückgang familiärer Betreuungsressourcen. Pflegende Angehörige – insbesondere Frauen und zunehmend auch Young Carers, also Kinder und Jugendliche, die ihre Verwandten pflegen – sind überlastet und bei professionellen Pflegepersonen, die ebenso unter zahlreichen Belastungen leiden, gibt es einen eklatanten Mangel an Personal.

Laut der Studie Pflegepersonal-Bedarfsprognose Österreich der Gesundheit Österreich GmbH im Auftrag des Sozialministeriums von November 2019 wird 2030 von einem zusätzlichen Bedarf von 34.200 Personen ausgegangen. Da rund ein Drittel der derzeit beschäftigten Pflege- und Betreuungspersonen älter als 50 Jahre ist und im Jahr 2030 nicht mehr im Erwerbsleben stehen wird, sei damit zu rechnen, dass weitere 41.500 Personen in diesen Berufssektor einsteigen müssen, um den Bedarf decken zu können. Dies entspricht daher – in Abhängigkeit von der demographischen Entwicklung – einem jährlichen Bedarf von 3900 bis 6700 zusätzlichen Personen.

Das Regierungsprogramm sieht also etwa die Prüfung der Etablierung eines Ausbildungsfonds vor. Zudem sollen neue Zielgruppen angesprochen, Nostrifizierungen erleichtert und die Durchlässigkeit zwischen allen Pflege-, Betreuungs- und Sozialberufen erhöht werden. Bereits umgesetzt ist, dass die Pflegeberufe in die Mangelberufsliste aufgenommen werden, und zuletzt wurde festgelegt, dass ab dem Schuljahr 2020 ein Schulversuch einer fünfjährigen Höheren Lehranstalt für Sozialbetreuung und Pflege an verschiedenen Standorten starten soll (die ÖKZ wird darüber gesondert berichten).

Laut der Pflegeexpertin und stellvertretenden Leiterin des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung (WIFO), Ulrike Famira-Mühlberger, braucht es, um den Bedarf an Pflegekräften zu decken, Ansätze auf vielen Ebenen. „Das wurde im Regierungsübereinkommen im Prinzip festgehalten. Allerdings noch relativ unkonkret – die Umsetzung dieser Ziele wird eine große Herausforderung“, sagt sie, und: „Es geht in puncto Personal auch nicht nur um die Ausbildung und deren Durchlässigkeit, sondern auch um die Arbeitsbedingungen. Hier ist nicht nur die Bezahlung der Pflegekräfte angesprochen, sondern auch der Arbeitsdruck, der durch die zu geringe Personalausstattung entsteht.“

Dass es nicht genügt, mehr Personen auszubilden, meint auch der Pflegewissenschaftler Martin Nagl-Cupal vom Institut für Pflegewissenschaft der Universität Wien. „Alle Personaloffensiven werden nichts bringen, wenn nicht die Arbeitsbedingungen der Pflege attraktiviert werden und Pflegepersonen auch ihre Potenziale ausschöpfen können. Dazu sind sie gegenwärtig einfach aufgrund der getakteten Zeit nicht imstande. Ich möchte auch betonen, dass es dabei nicht nur um höhere Gehälter geht.“

 

Finanzierung: Fehlendes Bekenntnis zu viel Geld?

Dennoch geht es in Sachen Pflege auch um Geld, und zwar um viel Geld. Insbesondere dann, wenn die im Regierungsprogramm festgeschriebene Formel von einer „grundlegenden Reform der Pflege, die so viel wie möglich daheim und ambulant erfolgen soll“ berücksichtigt wird. Nagl-Cupal: „Wenn man jetzt mehr den häuslichen Sektor einschließlich des Ausbaus von mobilen Diensten und der Unterstützung pflegender Angehöriger stärker in den Blick nimmt, wird dies nur gehen, wenn viel mehr Geld in die Hand genommen wird. Mit Umschichtungen allein wird es nicht getan sein. Auch der stationäre Sektor hat seine Berechtigung.“ Dem Experten aber „fehlt das Bekenntnis zu viel, viel mehr Geld, das notwendig ist, um an der häuslichen Pflege, aber auch an der Ausbildung grundsätzlich zu schrauben, im Regierungsprogramm gänzlich.“

Was das Wie der Finanzierung der Pflege betrifft, so macht es nach Meinung der WIFO-Pflegeexpertin Famira-Mühlberger aus ökonomischer Sicht Sinn, sie weiter über Steuermittel laufen zu lassen. Aber: „Der Nachteil wird sein, dass es – wie bisher – in regelmäßigen Abständen zu einer Diskussion über die Finanzierung der Pflege kommen wird, da dieser Budgetposten ständig verhandelt werden muss.“

 

Pflegegeldeinstufung: Was heißt Pflegebedürftigkeit?

Nächstes Stichwort: Pflegegeld. Das Regierungsprogramm sieht vor, es nach betreuendem, pflegerischem und medizinischem Bedarf neu zu bewerten. Dabei soll der Bedarf berücksichtigt werden und beim Einstufungsprozess ein Mehraugenprinzip gelten. Was sich in diesem Bereich in Zukunft konkret ändern wird, lässt sich laut Famira-Mühlberger noch nicht im Detail abschätzen, weil es auf die genaue Ausgestaltung ankommen wird. Sie hält aber das Mehraugenprinzip hier für wichtig und sieht auch in der Unterscheidung nach betreuendem, pflegerischem und medizinischem Bedarf einen wichtigen und richtigen Schritt. Martin Nagl-Cupal wiederum hält den Plan, das Pflegegeldsystem unter Berücksichtigung „aller Bedarfe“ weiterzuentwickeln, im Hinblick auf die Einschätzung als schwer umsetzbar. „Jemand kann zum Beispiel aufgrund einer schweren Erkrankung einen hohen medizinischen Bedarf bei gleichzeitiger hoher erhaltener Selbstständigkeit haben. Was sagt das über den Pflegebedarf aus?“ Er schlägt vor, etwa das Ausmaß der Selbstständigkeit einer Person nicht nur in puncto Mobilitätsfragen, sondern zum Beispiel auch in puncto Alltagsgestaltung oder soziale und psychische Verhaltensweisen besser zu berücksichtigen. „Meiner Meinung nach muss eine Diskussion darüber gestartet werden, was denn eigentlich ‚Pflegebedürftigkeit‘ überhaupt heißt. Das wäre einmal etwas wirklich Grundlegendes.“

Grundlegende Unterstützung bräuchten auch pflegende Angehörige. Was sie betrifft, so hält das Regierungsprogramm als Ziele die Einführung eines Pflege-Daheim-Bonus und einen pflegefreien Tag pro Monat fest. Zudem sollen die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf verbessert (Stichwort Pflegeteilzeit oder -karenz) und die mobile Pflege und Betreuung ausgebaut und weiterentwickelt werden. Und: Insbesondere sollen Young Carers präventiv entlastet werden. „Können diese Vorhaben wirklich umgesetzt werden, dann werden das die pflegenden Angehörigen sicher als Erleichterung und Unterstützung spüren“, meint Ulrike Famira-Mühlberger. „Allerdings wissen wir zurzeit noch nichts über die konkrete Ausgestaltung dieser Vorhaben. Wer übernimmt an diesem pflegefreien Tag? Wer bezahlt das? Wie wird das finanziert? Das sind einige offene Fragen, die ausgearbeitet werden müssen.“

Martin Nagl-Cupal sieht in den einzelnen vorgeschlagenen Maßnahmen gute Ansätze, die aber etwa auch konkrete Umsetzungsmöglichkeiten vermissen lassen. „Ein pflegefreier Tag ist nett, aber wenn jemand rund um die Uhr zuständig ist, ist das ein bisschen wenig und lässt sich außerdem nicht leicht planen.“ Er schlägt vor, in jedem Fall auch Angebote mitzudenken, die kurzfristige Entlastung untertags, aber vor allem auch in der Nacht möglich machen.

Und was die Young Carers betrifft, so sieht sie der Experte dann am besten entlastet, wenn es ein ausgewogenes Hilfsnetzwerk rund um die pflegebedürftige Person gibt, wobei aber auch noch die Kinder selbst eine zumutbare Rolle spielen können sollen. „Jedes Kind braucht eine Ansprechperson, und Kinder haben Rechte. Aus meiner Sicht gehören Young Carers deshalb explizit in der Gesetzgebung als Gruppe genannt.“

 

Community Nurses: Schritt in die richtige Richtung

Einig in einer sehr positiven Einschätzung sind beide Experten im Punkt Community Nurses. Durch sie sollen Angehörige professionelle Unterstützung erhalten, und das Projekt Community Nurses soll in 500 Gemeinden umgesetzt werden. „Dieses Vorhaben ist sehr positiv“, sagt Ulrike Famira-Mühlberger. „Andere Länder – allen voran die Niederlande – haben sehr gute Erfahrungen mit den Community Nurses gemacht. Es ist für die Betroffenen wichtig, dass sie eine kompetente Ansprechperson für ihre Anliegen haben. Außerdem sollen die Community Nurses nicht nur für Personen verantwortlich sein, die bereits Pflegebedarf haben, sondern auch Richtung Prävention wirken. Das ist definitiv ein Schritt in die richtige Richtung, denn Prävention ist bislang völlig unterbelichtet.“

Martin Nagl-Cupal sieht in den Community Nurses auch den „Brückenkopf zwischen Pflege- und Gesundheitsbereich, die ja leider nach wie vor sehr fragmentiert betrachtet werden.“ Er berichtet auch, dass international und gerade in Deutschland startend die Community Nurse auf Master-Niveau mit Bachelor in Pflege als Voraussetzung angeboten wird. „Das ist ein wichtiger Beitrag zur Qualitätsverbesserung der Pflege“, sagt er, betont aber noch, dass Community Nurses auch in ein System des „Community Nursing“ eingebunden sein müssen. „Das heißt, es geht hier nicht primär um die Schaffung einer neuen Berufsgruppe, sondern um ein Versorgungssystem, das auf die Notwendigkeit einer wohnortnahen, evidenzbasierten und menschenwürdigen Versorgung von kranken bzw. pflegebedürftigen Menschen jeden Alters unter Einbindung aller relevanten Gesundheitsberufe reagiert. Nicht die Berufsgruppen, sondern die Menschen stehen dabei im Vordergrund.“

 

Digitalisierung mit Chancen

Fehlt noch ein letzter wichtiger Punkt im Pflegekapitel des Regierungsprogramms, und das ist die Digitalisierung im Pflegebereich. Geprüft werden soll die Nutzung des bestehenden E-Card-Systems für Pflegeleistungen und die Möglichkeit zur anonymisierten Nutzung von Pflegedaten zu wissenschaftlichen Zwecken. Außerdem soll eine umfassende Informationsplattform für Betroffene und Angehörige etabliert werden. Letzteres beurteilt Ulrike Famira-Mühlberger als ein mehr als überfälliges Vorhaben. „Es muss eine schnelle Information geben, falls Pflegebedarf in einer Familie auftritt. Und: Die Plattform könnte auch dazu dienen, den wirklichen Pflegebedarf in einer Region abzuschätzen.“ Generell sieht die Expertin in der Digitalisierung eine große Chance. „Es gibt eine Reihe von Daten zu Pflegeleistungen, die die Wissenschaft nicht nutzen kann. Mit diesen Daten wäre es beispielsweise möglich, Evidenz dafür zu erarbeiten, welche Pflegearrangements besser wirken. Wir könnten auch eine Art Frühwarnsystem entwickeln, um etwa herauszufiltern, welche Präventionsmaßnahmen wirken.“

Kritischer sieht die Sache Martin Nagl-Cupal, doch zunächst zu den positiven Aspekten, die er der Digitalisierung abgewinnt. Die liegen seiner Meinung nach nicht nur in Profiten für die Forschung, sondern auch darin, dass durch die Verwendung der anonymisierten Daten auch das System besser gesteuert werden kann. „Auch was den sogenannten Pflegepersonalmangel betrifft, könnten Aussagen aus dem Pflegeberufsregister dabei helfen, herauszufinden, wo denn die große Anzahl von registrierten Pflegepersonen hinwandert, die offensichtlich nicht in der Pflege arbeiten wollen. Daraus könnte man Schlüsse für eine mögliche Attraktivierung ziehen.“

Gespannt ist er auf das Wie des Einsatzes der Sozialversicherungs-E-Card. „Bisher werden darüber Versicherungsleistungen, Arztbesuche, Medikamente, Psychotherapie etc. abgerechnet. Und Pflege ist ja zumindest bisher in Österreich keine Versicherungsleistung. Es können zwar etwa in den Primärversorgungszentren, in denen auch Pflegepersonen arbeiten, solche Leistungen abgerechnet werden, allerdings sollte die Frage nicht sein, wozu man die E-Card brauchen kann, sondern was die Menschen brauchen. Digitalisierung soll Dinge erleichtern, kann aber nicht die Antwort auf etwas sein, wo die Fragen unklar sind.“

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