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Straffer Kontakt-Trakt

28. November 2020 | Alexandra Keller

Im Kampf gegen die Corona-Pandemie gilt die Kontaktpersonen-Nachverfolgung als Schlüssel zum Erfolg. Dass Österreich bei deren Organisation ein Sommerschläfchen gehalten hat, wird vielfach moniert. Nun müssen alle Geschütze aufgefahren werden, damit das Contact Tracing funktioniert. 

Was auch immer auf dem Sommer-Programm der österreichischen Bundesregierung gestanden hat: Das Land mit aller Kraft, logistischer Finesse, klaren Ansagen und einer fetten Personaldecke darauf vorzubereiten, dass das Virusgeschehen rasch belebter werden kann, war es wohl nicht. Als sich die österreichische Tageszeitung ´Der Standard´ im September auf die Suche nach den Ursachen und Hintergründen der Österreich plötzlich übermannenden Corona-Infektions-Zahlen machte, wurde auch Peter Klimek, Forscher am Complexity Science Hub, zitiert. Als „entscheidenden Fehler“ nannte Klimek dabei, dass die Regierung die ruhigen Sommermonate nicht dazu genutzt habe, ausreichend Kapazitäten fürs Testen und die Kontaktnachverfolgung, das Contact Tracing, aufzubauen. Mögen sich im Zusammenhang mit den Corona-Maßnahmen zwischenzeitlich auch teils höchst unterschiedliche Positionen herauskristallisiert haben – an der Sinnhaftigkeit des Contact Tracings im Zusammenhang mit der Eindämmung der Pandemie zweifelt kaum jemand. Weil die Logik bestechend ist und die Identifikation oder das potenziell isolierende „Management“ von Personen, die Kontakt zu einem positiv Getesteten hatten, weitere Ansteckungen verhindern kann. Und dieses Management ist personalintensiv. Weil oft jede Minute zählt, arbeiten beispielsweise in Südkorea, einem Musterland, was das Einhegen des Virus betrifft, Contact Tracer in mehreren Schichten rund um die Uhr. 

 

Die Hotspots 

„Es war anzunehmen, dass die Zahlen der Infizierten im Herbst steigen werden. Dass sie nach der Heimkehr aus dem Urlaub allerdings so schnell steigen, hat alle überrascht“, musste Bürgermeister Michael Ludwig in einem Zeitungsinterview eingestehen. So suchte die Stadt Wien Ende September per Inserat Mitarbeiter für das Contact Tracing, 500 wurden für eine Dauer von zehn Monaten neu engagiert und auch bei der Servicehotline 1450 wurde Personal aufgestockt. Seit Ende September will die Stadt den Personennachverfolgern die Arbeit auch erleichtern, indem Gäste in Beisln und Kaffeehäusern sich namentlich registrieren müssen. Ende September 2020 startete auch die Landesregierung Niederösterreichs eine groß angelegte Suche. „Sie studieren oder haben vor kurzem die Reifeprüfung abgelegt und wollen einen Beitrag zur Eindämmung des Coronavirus SARS-CoV-2 bzw. der Viruserkrankung COVID-19 leisten“, wird dabei eingangs gefragt, um derart positiv Motivierte zu rekrutieren. Als Contact Tracer. Um die Bezirkshauptmannschaften des Landes bei der Kontaktpersonen-Nachverfolgung zu unterstützen. Für einen Bruttolohn von 1.850 Euro monatlich. Ab sofort. Befristet bis zum Ende der Pandemie. Wann immer das kommen mag. 

Neben Wien ist Tirol ein Corona-Hotspot. Wieder, könnte man rückblickend sagen, doch für reminiszente Spitzfindigkeiten fehlt schlicht die Zeit. Die Reisewarnungen der Niederlande oder Deutschlands treffen das Tourismusland mitten ins Herz und rütteln zugleich am vegetativen Nervensystem der Landes-Ökonomie. Jeder dritte Euro wird in Tirol direkt oder indirekt in der Tourismus- und Freizeitwirtschaft verdient. Im Tourismusjahr 2018/2019 lag die Wertschöpfung bei 4,5 Milliarden Euro und jeder vierte Arbeitsplatz wird von dieser Branche geschaffen. Um die 50 Millionen Nächtigungen garantierten dies bisher mit steigender Tendenz. Vor der Pandemie jedenfalls, mit der die Branche einem wirtschaftlichen Desaster entgegensteuert. Eben auch, weil die potenziellen Gäste davor gewarnt werden, das Land zu besuchen. Das Armageddon viel zu direkt vor Augen, gibt Tirol in puncto Testkapazitäten und Contact Tracing Gas. Anfang Oktober 2020 wurde im Auftrag der Landeshauptstadt Innsbruck ein Corona-Zentrum in der Messehalle eröffnet, wo vorerst 33 Personen für vorerst ein halbes Jahr für die Kontaktpersonen-Nachverfolgung eingesetzt wurden. Am 26. September 2020 waren erstmals futuristisch anmutende Lkws ins Bergland geschickt worden, sogenannte Lab Trucks, die als mobile Hightech-Pharma-Labore rund 400 PCR-Testungen pro Stunde vornehmen und binnen maximal drei Stunden ein Ergebnis liefern können. „Die Lab Trucks ergänzen die vorhandene Infrastruktur, um auch dezentral noch schneller Testungen durchführen zu können. Gleichzeitig werden bestehende Testkapazitäten entlastet“, erklärt Elmar Rizzoli

 

Enormer Druck 

Rizzoli ist Leiter des Corona-Einsatzstabes des Landes Tirol und damit quasi der personifizierte Dreh- und Angelpunkt der Corona-Einsätze im Land. Er ist Oberstleutnant und es ist durchaus eine Art Kriegsführung, die er verantwortet. Den Krieg gegen Corona. Positiver beziehungsweise prosaischer formuliert, geht es dabei aber erst einmal darum, die Schlacht gegen die Reisewarnungen zu gewinnen und damit die Aussicht auf eine nicht gänzlich verlorene Wintersaison zu eröffnen. Der Druck ist enorm. Dass der Einsatzleiter seinen Tagesablauf als sehr straff und intensiv beschreibt, verwundert vor dem Hintergrund wenig. „Es geht insbesondere um organisatorische und strategische Planungen. Wir versuchen, die aktuellen Entwicklungen einzufangen und jeweils so früh wie möglich zu reagieren. Das Wichtigste ist es, mit der nötigen Ruhe zu agieren, den Überblick zu bewahren und gleichzeitig die Details im Blick zu behalten. Es müssen immer klare Zuständigkeiten definiert werden, damit wir effizient arbeiten können. Der persönliche Hintergrund und die Erfahrungen auch beim Bundesheer helfen dabei natürlich sehr“, sagt er. Als Einsatzzentrale steht ihm seit Anfang September 2020 ein dafür umfunktioniertes Hotel in Innsbrucks Osten zur Verfügung – in dem auch Unterkunftsmöglichkeiten für Verdachts- oder positive Coronafälle bereitstehen. Für 24-Stunden-Betreuerinnen etwa, die hier das Testergebnis abwarten können. Das Herzstück der Corona-Zentrale ist dem Contact Tracing gewidmet. Mitte September waren im Hotel selbst insgesamt 50 Personen dafür zuständig. „Derzeit sind es in Tirol rund 200 Personen, die im engeren Sinn das Contact Tracing durchführen beziehungsweise im weiteren Sinn an der Durchführung und Abwicklung beteiligt sind“, hielt Rizzoli am 28. September 2020 gegenüber ÖKZ fest und verwies in diesem Zusammenhang darauf, dass die Gesundheitsbehörden in Tirol – noch mit Ausnahme von Innsbruck – beim Verdachtsfall-Contact Tracing von einem eigens zentral eingerichteten Team, dem „Team Epidemiologie“, unterstützt werden, welches wiederum Unterstützung vom Bundesheer erhält. Die leicht verwirrenden Zuständigkeiten und unterschiedlichen Personalquellen erschweren es, den Umfang der Mannschaft zu ermitteln, die sich in Tirol auf die Spur der Kontaktpersonen macht, vor allem um jene, die als „Kontaktpersonen mit Hoch-Risiko-Exposition“ gelten, abzusondern respektive in Quarantäne zu schicken. 

 

Detaillierte Anleitungen von der WHO 

Am 10. Mai 2020 hatte die Weltgesundheitsorganisation WHO einen Leitfaden veröffentlicht, in dem die Rahmen für ein erfolgreiches Contact Tracing recht genau gesteckt wurden.[1] 

„This document provides guidance on how to establish contact tracing capacity for the control of COVID-19“, heißt es in dem WHO-Papier, das den Staatsführungen genau dazu die detaillierte Anleitung liefert – nämlich jene Kapazitäten zur Kontaktpersonen-Nachverfolgung bereit zu stellen, mit der das Virusgeschehen kontrolliert werden kann. Mit sieben Seiten ist der Leitfaden recht knapp gehalten, und doch scheint er nicht zur Sommerlektüre der österreichischen Bundesregierung gezählt zu haben. Wenn doch, hätte das Land mit insgesamt rund 1.300 professionellen Contact Tracern dem bedrohlichen Anstieg der Infizierten Paroli bieten können, und allein in Wien wäre mit 700 Corona-Detektiven kein personeller Notstand entstanden. Zur aktuellen Situation in Tirol hält Elmar Rizzoli auf die Frage, ob die Zahl der Tiroler Contact Tracer der Empfehlung der WHO entspricht, fest: „Pauschal kann diese Frage nicht beantwortet werden. Bei der WHO wird unter dem Contact Tracing nur die Kontaktpersonen-Nachverfolgung von positiv getesteten Personen verstanden. Das Team Epidemiologie des Landes Tirol befasst sich aber bislang vor allem mit dem Tracing von Verdachtsfällen, die also noch nicht positiv getestet wurden. Es gibt dazu international keine Vergleichszahlen. Grundsätzlich ist zu sagen, dass die personellen Ressourcen im Rahmen des Contact Tracings in Tirol aufgestockt wurden und laufend aufgestockt werden, um auf steigende Infektionszahlen entsprechend zu reagieren.“ 

Dieser Plan sieht für Tirol vor, dass die Corona-Mannschaft im Corona-Zentrum selbst, in den Bezirkshauptmannschaften und der Leitstelle Tirol um 150 Personen aufgestockt wird, wobei rund 110 aus dem Landesdienst kommen und 40 Personen neu rekrutiert werden. „Zudem wurden beispielsweise bereits insgesamt 30 Verwaltungspraktika an Personen ausgeschrieben, die sich derzeit in einer passenden Ausbildung an den Tiroler Universitäten beziehungsweise der Medizinischen Universität, der UMIT, der Fachhochschule Gesundheit oder dem MCI befinden oder eine kaufmännische Ausbildung abgeschlossen haben. Weitere Praktika werden in Kürze ausgeschrieben“, zählt Rizzoli auf. Ende September hatte auch das Bundesheer angekündigt, die Zahl der Soldatinnen und Soldaten, die beim Contact Tracing eingesetzt werden, von 35 auf 70 zu verdoppeln. 

 

Erheblicher Personalaufwand 

Die Heerschar, die unter Rizzolis Kommando arbeitet, wächst. Und der Arbeitstakt bleibt straff und intensiv. Zwischen 2. und 25. September 2020 hat allein das Team Epidemiologie im Corona-Zentrum über 5300 Verdachtsfälle getraced. Die Zahl der Telefonate, SMS und Briefe, die jeden einzelnen Verdachtsfall begleiten, ist gigantisch. Auch wenn die Sinnhaftigkeit des überbordenden Testens von immer mehr Experten in Zweifel gezogen wird, gilt doch: Je früher eine infizierte Person als solche erkannt bzw. erfasst wird und die Daten vom zuständigen Labor in das Epidemiologische Meldesystem (EMS) des Bundes einpflegt werden, umso besser. Je später dies passiert, umso mehr Kontaktpersonen müssen nachverfolgt werden und umso mühsamer wird das Tracing. Dies nachzuvollziehen, fällt nur überzeugten Einzelgängern schwer. Für sozial Umtriebigere ist es hingegen gar nicht so leicht, all jene zu nennen, mit denen sie beispielsweise in den letzten drei oder vier Tagen Kontakt hatten. Wenn auch flüchtig. „Das Contact Tracing ist immer maßgeblich, um Infektionsketten ehestmöglich zu unterbinden – vor allem auch dann, wenn die Quelle der Infektion nicht bekannt ist“, lenkt Rizzoli den Blick auf schwierige Fälle und sagt auf die Frage, ob das Contact Tracing auch sinnlos werden kann: „Es ist nie sinnlos, aber jeweils mit großem zeitlichen Aufwand und erheblichem Personalaufwand verbunden.“ 

 

Kategorien von Personen 

Das Contact Tracing wird so lange lebendig bleiben müssen, solange das Virus aktiv ist. Entscheidend für die Vorgangsweise der Contact Tracer – in Innsbruck, Wien und anderswo in Österreich – sind die Vorgaben des Gesundheitsministeriums, die zuletzt am 26. September 2020 aktualisiert wurden. Den Kontaktpersonen der Kategorie I wird darin gleich eingangs höchste Aufmerksamkeit gewidmet – sind sie doch die Menschen mit „Hoch-Risiko-Exposition“. Sie ausfindig zu machen, ist der „hard part“ – für die Tracer genauso wie für die infizierte Person, die dabei ihr Gedächtnis strapazieren muss. Eine so genannte K1-Kontaktperson wird dadurch definiert, dass sie „kumulativ für 15 Minuten oder länger in einer Entfernung von weniger oder gleich 2 Metern Kontakt von Angesicht zu Angesicht mit einem bestätigten Fall hatte“ oder dass diese Person „sich im selben Raum (z.B. Klassenzimmer, Besprechungsraum, Räume einer Gesundheitseinrichtung) mit einem bestätigten Fall in einer Entfernung von weniger oder gleich 2 Metern für 15 Minuten oder länger aufgehalten“ hat. 

Das Ministerium zählt etwa mit Sitznachbarn im Flugzeug noch weitere potenzielle K1-Kontaktpersonen auf, um gleich anschließend mit dem K1-Management die Dramaturgie für die betroffenen Personen wie auch die Contact Tracer zu beschreiben. „Namentliche Registrierung, Erhebung von Telefonnummer, E-Mail-Adresse, Berufsort, Berufstätigkeit und Wohnverhältnissen“ stehen als Erstes auf dem Programm. Dem folgt eine Rundum-Aufklärung der K1-Person über das COVID-19-Krankheitsbild, die Krankheitsverläufe und Übertragungsrisiken, die Selbst-Überwachung des Gesundheitszustandes und das Verhalten im Rahmen der „häuslichen Absonderung“. Diese zehntägige Quarantäne wird durch einen entsprechenden Bescheid durch die Bezirksverwaltungsbehörden vorgeschrieben und von der Exekutive überwacht. Die Arbeit der Contact Tracer im Zusammenhang mit den K1-Kontaktpersonen hat also ein durchaus schwergewichtiges behördliches Aufgebot zur Folge. Ihre Arbeit ist aber mit dem Management der Hoch-Risiko-Personen nicht zu Ende. Auch die Kontaktpersonen der Kategorie II, also jener, die weiter entfernt und kürzer Kontakt zu einem positiven Corona-Fall hatten, müssen registriert, kontaktiert und informiert werden. Sich Sisyphos als glücklichen Menschen vorzustellen, ist eine gute Voraussetzung für den Job. Denn der Kontakt-Takt ist straff. Das bleibt er vorerst auch. Und die Frage, was denn die österreichische Bundesregierung im Sommer so gemacht hat, wird beantwortet. Mit der verzweifelten Rekrutierung von Contact Tracern. 

 

Literatur

[1] WHO (2020): Contact tracing in the context of COVID-19. Zugang: https://www.who.int/ publications/i/item/contact-tracing-in-the-context-of-covid-19. Zugriff: 5.10.2020. 

Quelle: ÖKZ 11/2020 (Jahrgang 61), Springer-Verlag