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Doppelte Angst

Frau liegt zum Scan in einer Computertomographen-Röhre
Frau liegt zum Scan in einer Computertomographen-Röhre

Eingeschränkter Zugang zu intra- und extramuralen Strukturen und Befürchtungen der Patienten, sich mit SARS-CoV-2 anzustecken, führten zu starken Rückgängen bei Früherkennung und Behandlungsschritten von Krebs.

40.000 Personen erkranken im Jahr in Österreich an Krebs. Betroffene haben ein erhöhtes Risiko für einen schwereren Verlauf nach einer Infektion mit dem Coronavirus. Nach dem ersten Lockdown zeigten internationale Daten, dass es zu einem Rückgang bei Screenings auf Krebserkrankungen und bei Tumordiagnosen gekommen war. Verspätete Diagnosen und der reduzierte Zugang zu Therapien erhöhe die Mortalität der Krebspatienten, analysiert Paul Sevelda, Präsident der Österreichischen Krebshilfe. Eine Studie aus den USA[1] ermittelte einen durchschnittlichen Rückgang der Tumordiagnosen von über 46 Prozent im Frühjahr – quer über sechs Tumortypen, mit besonders drastischen Werten bei Mammakarzinomen. Die Autoren einer LancetStudie[2] rechnen mit einer Zunahme der Sterblichkeit in den nächsten fünf Jahren, die durch verzögerte Diagnose von Krebserkrankungen verursacht wird. Fünf bis fast 17 Prozent mehr Todesfälle seien in den Tumorgruppen Brustkrebs, Darmkrebs, Lungenkrebs und Speiseröhrenkrebs zu befürchten. 

 

Rückgang um ein Drittel 

Zwar sei das Ausmaß der negativen Konsequenzen durch die Corona-Pandemie auf die Früherkennung und optimale Behandlung von Krebs „schwierig zu quantifizieren“, so Wolfgang Hilbe, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Hämatologie. Doch gab es etwa Berichte Grazer Pathologen, dass die Einsendungen von histologischen Analysen in Zusammenhang mit Tumorerkrankungen während und nach dem ersten Lockdown deutlich zurückgegangen sind. Das ließe den Schluss zu, dass weniger Biopsien und Operationen stattgefunden haben.

Wolfgang Hilbe, <br>Onkologe, <br>Klinik Ottakring
Wolfgang Hilbe, Onkologe in der Klinik Ottakring
Das Ausmaß der negativen Konsequenzen ist schwierig zu qualifizieren.

Wolfgang Hilbe, 
Onkologe, 
Klinik Ottakring

Laut einer Umfrage Ende des Vorjahrs beobachteten heimische Krebsspezialisten während der beiden Lockdowns im Frühjahr und im Herbst einen Rückgang an onkologischen Leistungen um etwa ein Drittel, ausgelöst durch eingeschränkten Zugang zu Früherkennungs- bzw. Vorsorgeuntersuchungen sowie die Verschiebung diagnostischer und therapeutischer Leistungen. Strahlentherapeuten vermeldeten, dass während des ersten Lockdowns weiter Vollbetrieb möglich gewesen, allerdings danach die Zahl der Diagnosen bzw. die Zahl der Zuweisungen zurückgegangen sei. 

„In der Klinik Ottakring wurde beispielsweise praktisch während der gesamten Zeit seit März mit den Applikationen von Chemotherapie zu 100 Prozent weitergefahren“, differenziert Hilbe. 

Auch die Zahl der Vorstellungen im Tumorboard lag bei 95 Prozent im Vergleich zu 2019. Weiters zeigte eine Umfrage bei Brustkrebspatientinnen, dass 87 Prozent ihre Chemotherapie unverändert fortsetzen konnten bzw. 93 Prozent weiterhin Strahlentherapie-Behandlungen erhielten. Bei 60 Prozent fand eine Operation zum geplanten Termin statt. Allerdings weist eine aktuelle heimische Studie[3] darauf hin, dass es bei gynäkologischen Krebserkrankungen im März, April und Mai einen Rückgang um 50 Prozent bei den Diagnosen gab. Eingefordert werden als Konsequenz mehr und deutlich leichter zugängliche Maßnahmen im Bereich der Früherkennung.

 

Verschiedene Phasen 

Es gab während der Pandemie verschiedene Phasen, drei bis vier Wochen lang waren auch in spezialisierten Ambulanzen nur 50 Prozent der Betten belegt. „Teilweise wurde das Krankenhaus als Ort dargestellt, wo die Wahrscheinlichkeit für eine Ansteckung hoch sei“, was, so Hilbe, einige auch davon abgehalten habe, zu Routineuntersuchungen zu kommen. Dazu kam die Vorgabe, alle Eingriffe zu verschieben, wo dies medizinisch möglich sei. Der Lockdown im Herbst hatte einen anderen Charakter, hier gingen Chemotherapien normal weiter – wobei laut Hilbe „das Gefühl der ständigen Gefährdung stark belastend war: Stecke ich jemanden an? Bringen Patienten oder Angehörige das Virus herein?“ 

So wirkte sich auch die massive Einschränkung der Möglichkeiten, jemanden im Krankenhaus zu besuchen, negativ aus. Es kam also bei vielen Patienten, wie Hilbe es bezeichnet, zu einer „doppelten Angst: jener vor einer Krebsdiagnose bzw. den Auswirkungen der Krankheit und jener vor Corona“. Patienten, die ambulant behandelt werden, würden sich deshalb noch stärker in eine soziale Isolation begeben, gleichzeitig wären aber der unmittelbare soziale Kontakt, die regelmäßige Unterstützung vor Ort nach einer Krebsdiagnose so wichtig.

 

Sicherheitsvorkehrungen besser 

Der Präsident der Onkologen-Gesellschaft verweist darauf, dass Früherkennung von Krebs oft außerhalb des Spitals abläuft, also bei niedergelassenen Gastroenterologen, Gynäkologen, Radiologen und Allgemeinmedizinern. „Gerade in und nach dem ersten Lockdown war fatal, dass die Versorgung mit Schutzausrüstung schlecht oder gar nicht funktioniert hat. Diese Ärzte wurden hängen gelassen.“ Im zweiten Lockdown war die Situation dann deutlich besser, hatten deutlich weniger Arztpraxen generell geschlossen. Auch angesichts aktueller Überweisungszahlen meint Hilbe, dass sich das Ausmaß dieses Problems deutlich relativiert hat. Ebenso seien nun die Sicherheitsvorkehrungen in den Spitälern viel besser ausgereift, daher wendet sich die Krebshilfe in Zusammenarbeit mit verschiedenen medizinischen Gesellschaften an die Bevölkerung, Maßnahmen zur Früherkennung, Diagnose und Behandlung wieder stärker in Anspruch zu nehmen. 

Auch die WHO Europa rief eine europaweite Krebsinitiative ins Leben, um Krebskontrolle und -vorbeugung auf dem Kontinent zu verbessern – so soll der befürchtete Anstieg[4] an Krebstoten eingebremst werden. Was sich in den letzten Monaten noch deutlicher zeigte, ist für Hilbe die Bedeutung von Netzwerken für Früherkennung und umfassende Behandlung. In Österreich gebe es eine starke Spitalszentrierung, in Deutschland existieren deutlich mehr Angebote an ambulanten Strukturen zur Krebsbehandlung. „Krebs zu erkennen erfordert eine komplexe Diagnostik, bei der etwa die Molekularbiologie eine wichtige Rolle spielen kann. Dies braucht also hoch spezialisierte Zentren.“ Gleichzeitig vermeiden wohnortnahe Strukturen lange Fahrt- und Wartezeiten und ermöglichen einen langen Verbleib in der häuslichen Umgebung. Konzepte, bei denen nicht Menschen, sondern die Befunde reisen, „würden die zentrale Steuerung einer Behandlung ermöglichen, die mit wohnortnaher Umsetzung der Maßnahmen wie Medikamentengabe, Überwachung von Nebenwirkungen oder Eingehen auf psychische Aspekte verschränkt ist“. 

Dafür, unterstreicht Hilbe, sei der Auf- und Ausbau entsprechender Netzwerkstrukturen wichtig. Unerlässlich sei die schnelle und möglichst einfache Weitergabe, der Zugriff auf Informationen – „teilweise sind wir noch in der digitalen Steinzeit, etwa mit der Ablage von PDF-Dateien in irgendwelchen Ordnern“, fordert Hilbe eine rasche Digitalisierungsoffensive ein.

 

Zugang zu innovativen Therapien 

Restriktionen in der Bewilligung innovativer Therapien sind ein weiterer Kritikpunkt Hilbes. Viele Bundesländer würden aktuell „dem Beispiel aus der Steiermark folgen, wo ein ‚Innovationsboard‘ ohne Beteiligung eines hämatologischen oder Krebsexperten onkologische Behandlungen bewilligen oder ablehnen kann. In anderen Bundesländern, wie in Wien, stehen innovative Medikamente für alle, die sie brauchen, uneingeschränkt zur Verfügung.“ Hilbe befürchtet eine Begrenzung der finanziellen Mittel im Nachgang der Corona-Krise, wodurch der Zugang zu innovativen Therapien insgesamt erschwert würde. Die NEOS verwiesen in einer Aussendung zum Weltkrebstag am 4. Februar darauf, dass nach wie vor ein bundesweites Krebsregister fehlt, was die Forschung massiv beeinträchtige. Zudem würden föderalistische Strukturen zu uneinheitlichen Maßnahmen bei Diagnose und Behandlung führen. Finanzierungsstreitigkeiten zu Prävention und dem Einsatz oft kostenintensiver Therapien dürften nicht auf dem Rücken der Patienten ausgetragen werden, die teils an Zentren in anderen Bundesländern verwiesen würden. 

 

Literatur:

[1] Kaufmann W et al (2020): Changes in the Number of US Patients With Newly Identified Cancer Before and During the COVID-19 Pandemic. Zugang: https://jamanetwork.com/journals/jamanetworkopen/ fullarticle/2768946. Zugriff: 8.3.2021. 

[2] Maringe E et al (2020): The impact of the COVID-19 pandemic on cancer deaths due to delays in diagnosis in England. Zugang: https://www.thelancet.com/journals/lanonc/article/PIIS1470-2045(20)30388-0/ fulltext. Zugriff: 8.3.2021. 

[3] Tsibulak I et al (2020): Decrease in gynecological cancer diagnoses during the COVID-19 pandemic: an Austrian perspective. Zugang: https://ijgc.bmj.com/content/30/11/1667. Zugriff: 8.3.2021. 

[4] Hanna T (2020): Mortality due to cancer treatment delay: systematic review and meta-analysis. Zugang: https://www.bmj.com/content/371/bmj.m4087. Zugriff: 8.3.2021. 

Quelle: ÖKZ 05/2021 (Jahrgang 62), Springer-Verlag

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