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Start-ups sind Keimzellen von Innovation und Veränderung. Ihre Entwicklungen finden außerhalb des Diagnostischen Bereichs aber keinen Zugang in das österreichische Gesundheitssystem. Es kümmert sich niemand um die Ideen der Gründer.
Bevor sich Wolfgang Mückstein in die Politik locken ließ, galt er als Innovator. Er ist Mitbegründer des ersten Primärversorgungszentrums Österreichs und stand immer im Ruf, in technologischen Dingen das zu sein, was man heute einen „early adopter“ nennt: jemand, der technische Neuerungen sofort ausprobieren will. In den wilden Iden des März 2020 zählte sein PVZ zu den wenigen Ordinationen, die der allgemeinen Pandemie-Panik das Angebot einer Videosprechstunde entgegensetzte. Während der ersten Brennpunkttage wurden in Mariahilf 60 – 80 Patientenkontakte täglich über Videocalls abgehalten. Der normale Ordinationsalltag war praktisch zusammengebrochen. Die persönlichen Arztkontakte betrugen nur mehr 10 Prozent eines gewohnten Arbeitstages, erklärte Mückstein damals in einem Gespräch mit der Ärztewoche. Niemand wollte sich mehr physisch den Viren des Alltags aussetzen. Das bedeutete nicht, dass der allgemeinmedizinische Rat nicht gesucht worden wäre. Am ersten Arbeitstag nach dem März-Lockdown verzeichnete die Ordination Mariahilf 1.200 telefonische Anrufe.
Fernmündliche medizinische Versorgung ist kein Novum. Die heimischen Entscheider im Gesundheitssystem haben die Möglichkeiten einer ortsunabhängigen ambulanten Versorgung sehr frühzeitig entdeckt – und reagierten sehr österreichisch: Sie gründeten eine Kommission. Seit März 2013 denkt die „Telegesundheitsdienste-Kommission (TGDK)“ nach, wie technische Kommunikationsmittel für die medizinische Versorgung Österreichs genutzt werden sollen. Der Output blieb dabei gremialtypisch überschaubar – bis das Virus kam. Denn was über Jahre undenkbar war, wurde unter dem Eindruck der Pandemie möglich. Telemedizinische Arztgespräche, die per Video oder Telefon geführt werden, dürfen seither von Kassenärzten in Rechnung gestellt werden. Und nach anfänglichen Startschwierigkeiten werden telemedizinische Sprechstunden heute in gleicher Höhe honoriert, wie die Leistungen in der Ordination ohne Zuhilfenahme telemedizinischer Methoden.
Die Euphorie über den digitale Arzt-Patienten-Alltag verlief rasch im Sand. Bernadette Frech hatte 2018 begonnen, mit dem Grazer Start-up Insta Communications und der Marke „Instahelp“ psychologische Beratung online anzubieten. Mit dem Beginn der Pandemie stellte ihr Unternehmen mit „Instadoc“ Ärztinnen und Ärzten gratis ein Telemedizin-Tool zur Verfügung, mit dem Patientengespräche per Video oder Telefon verschlüsselt und DSGV-konform sofort abgehalten werden konnten: „Die Akzeptanz für unser Angebot war am Beginn der Pandemie hoch“, erinnert sich Frech. Die Nachfrage verebbte aber mit dem Panikpegel: „Als der Lockdown endete und Praxen wieder aufsperrten, nahm die Nutzung stark ab.“ Frech konzentrierte Instahelp wieder auf die Kerngruppe der Psychologen und Psychiater: „In diesen Fächern gibt es eine weit fortgeschrittene Akzeptanz für digitale Beratung.“
Telemedizin ist eine der sichtbarsten technologischen Innovationen im Gesundheitsbereich.
In Österreich sind dabei gute Anfänge gemacht worden. Aber wie bei anderen digitalen Projekten wurde in der Umsetzung nie eine kritische Größe erreicht. So gilt die Gesundheitshotline 1450 unter Experten als etablierte telemedizinische Erstkontaktform. Vor der Pandemie war die Hotline in der Patientenschaft so gut wie unbekannt.
Christoph Steinacker, Leiter der Abteilung Bundeskurie Angestellte Ärzte, und Felix Wallner, Kammeramtsdirektor der Ärztekammer Oberösterreich, haben in einem gemeinsamen Aufsatz in der Österreichischen Ärztezeitung (Nr 1-2/2021) die Möglichkeiten der telemedizinische Versorgung für das österreichische Gesundheitssystem analysiert: „1450 hätte die Wirkungskraft, dafür zu sorgen, dass nur noch jene Fälle in der Ordination oder Ambulanz eintreffen, die dort auch behandelt gehören.“ Dass dem nicht so sei, hätte organisatorische Gründe: „Für ein entsprechendes Funktionieren müsste allerdings der dortige Prozess transparenter und nachvollziehbarer ausgestaltet und selbstverständlich mit den notwendigen technischen und personellen Ressourcen ausgestattet werden.“
Telemedizin ist ein Beispiel für das Veränderungspotenzial von Innovationen. In Kombination mit einem Primärversorgungszentrum können telemedizinische Einrichtungen die medizinischen Versorgungsprobleme in den ländlichen Gebieten zumindest abschwächen. Ghana macht es vor: Die österreichische VAMED installiert dort im Auftrag der Regierung eine telemedizinische Plattform namens SMAPP, die entlegene Regionen mit medizinischem Rat erstversorgt.
Die Nöte der ambulanten Versorgung prägen stark die Wahrnehmung der Patientenschaft. Der Schwerpunkt der Digitalisierung liegt allerdings im intramuralen Bereich: Österreich gibt rund ein Drittel seiner Gesundheitsausgaben für die stationäre Versorgung aus – der teuersten Art der Gesundheitsversorgung (siehe „Das österreichische Gesundheitssystem“, 2019; WHO Regional Office for Europe, Copenhagen).
In den Kliniken liegen die großen Potenziale der Digitalisierung. Start-ups sind dabei eine der zentralen Quellen von Innovation. Sie sind ständige Dynamos von Veränderung, die – wenn sie erfolgreich sind – in der Regel von großen Unternehmen oder Institutionen aufgekauft werden. Die meisten der großen Konzerne sind dazu übergegangen, Innovation zu akquirieren und nicht mehr selbst zu entwickeln (siehe BioNTech-Pfizer). Es gehöre zu „unserer DNA, Dinge neu zu denken“, meint Daniela Buchmayr, Mitbegründerin und Chefin eines Life-Sciences-Start-ups. Mit „uns“ meint Buchmayr ihr Start-up Sarcura im Klosterneuburger IST, das eine neue Forschungsplattform für die pharmazeutische Industrie entwickelt. Mit dem Sarcura-Verfahren sollen künftig individualisierte Krebstherapien in industriellem Maßstab möglich werden. „Wenn unsere Idee fliegt, dann fliegt sie hoch“, ist sich Buchmayr sicher. Sie hat vor der (Mit)Gründung 2019 eineinhalb Jahrzehnte in Großunternehmen der Biopharmazie gearbeitet – und aus der ersten Reihe beobachtet, wie schwer Innovationen Eingang in die Systeme des Gesundheitsbereiches finden:
Die Transformationsgeschwindigkeit einer Neuerung orientiert sich immer daran, wie sehr die neue Lösung die alte Lösung zu ersetzen versucht. Je transformativer, umso langsamer.
Albert Frömel leitet den Bereich Healthcare und LifeScience beim Innovationsdienstleister Zühlke Österreich. Zuvor war er fast 15 Jahre bei Microsoft Österreich für den gleichen Bereich verantwortlich: Er kommt zu einem sehr ähnlichen Befund. „Die operativen Ebenen in den Spitälern haben eine extrem hohe Bereitschaft, medizintechnische Innovationen umzusetzen.“ Das Interesse an Neuerungen sinke allerdings, je geringer der unmittelbare diagnostische oder therapeutische Nutzen in einer Neueinführung liege. Dabei fände sich „der stärkste Starteffekt der Digitalisierung im Bereich des Backoffice“, ist der Innovationsberater überzeugt.
Die Nutzung der ELGA-Patientenakte ist ein Aufgabenfeld, das wie gemalt für die Methoden der Künstlichen Intelligenz ist. Günter Klambauer, Professor am Institut für Machine Learning der JKU Linz, ortet genau dort die Sackgasse der meisten heimischen Digitalisierungsprojekte: „Datenmanagement in der Medizin wird bisweilen so nachlässig behandelt, dass Wissenschaftler*innen daraus nur selten Erkenntnisse ableiten und davon profitieren können.“ Klambauer versichert, dass dies kein Problem des Datenschutzes sei. Es mangle „vielmehr an der Erkenntnis, dass von einem guten Datenmanagement zusammen mit KI sowohl die medizinische Forschung als auch das Gesundheitssystem stark profitieren können“. It is as simple as that.
Die bildgebende Diagnostik ist so etwas wie eine Nährlösung für Künstliche Intelligenz. Das nutzen die Gründer des Wiener Start-ups Contextflow, um ihre Bildanalyse-Software „zum weltweiten Standard zu machen“, wie Co-Founder und CEO Markus Holzer im Start-up-Magazin trendingtopics formuliert. Seine Entwicklung unterstützt Radiologen bei der Befundung von Lungen-Computertomografien (CT). Mithilfe von Methoden des Maschinellen Lernens vergleicht die Software Lungen-CT-Scans mit geprüften medizinischen Bilddaten. Die Entwicklung ist laut Holzer in „mehr als zehn Kliniken europaweit im Einsatz“, unter anderem an der Medizinischen Universität Wien (AKH). Contextflow ist ein Beispiel, wie Innovation Nutzen unmittelbar für die operative medizinische Tätigkeit bringt.
Wenn ein Krankenhaus ein komplexes Zutrittssystem benötigt, weil nur ein Besucher pro Patient das Haus betreten darf, dann werden die Entscheidungsstrukturen komplizierter. „Es gibt wunderbare digitale Lösungen für das Problem“, weiß Albert Frömel, „allerdings müssen dabei von der Krankenhaus-IT abwärts viele Scharniere ineinandergreifen.“ Daher gebe es Anlaufkosten bei Personal und Zeit. Das ist in den überdehnten Krankenhausstrukturen nicht vorgesehen. Die Lösung sind Sicherheitsdienste, deren Kosten die IT-Integration nach 18 Monaten zu übersteigen beginnen. Innovationen müssen – egal, ob von Start-ups initiiert oder durch andere Institutionen angestoßen – „das System entlasten oder verbessern. Alles andere hat keinen Sinn“, so Frömel.
Es gibt keine funktionsfähigen Andockstationen, durch die Neuerungen rasch in die Systeme übernommen werden können.
Die Integration von Innovation ist in der Strategie des österreichischen Gesundheitssystems nicht gesondert vorgesehen. „Es gibt keine funktionsfähigen Andockstationen, durch die Neuerungen rasch in die Systeme übernommen werden können“, kritisiert der Zühlke-Berater. Die Hindernisse sind banal: Gründer berichten von Präsentationen vor Krankenhausmanagern, in denen zwar Interesse und Bedarf bekundet wird, es jedoch keine personellen Kapazitäten für eine Implementierung gäbe.
Vorbilder für institutionalisierte Integration des technologischen Fortschritts gibt es. So haben die (wenigen) finnischen Krankenhausverbünde in ihren Leitungsgremien Innovation als gleichberechtigten Kompetenzbereich zur IT eingerichtet. Ähnliches verlangt Sarcura-Gründerin Daniela Buchmayr: „Kompetente Ansprechpartner beschleunigen Veränderungsprozesse.“ Sie rät aber zu Einschränkungen: „Die Entscheidungen sollten nicht von einem einzigen älteren Herrn getroffen werden.“ Transparenz mache Beschlüsse vielleicht komplizierter, „aber dafür richtiger“.
Quelle: ÖKZ, 63. JG, 06/2022, Springer-Verlag.