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Clemens Martin Auer gilt als einer der einflussreichsten Strippenzieher des österreichischen Gesundheitssystems. Er begründet im Interview, warum eine Beschneidung des Wahlarztsystems doch Sinn mache und wieso er die Kassenreform für Humbug hält.
Clemens Martin Auer: "Das hat eine eigene Geschichte. Nachdem die türkis-blaue Regierung das Gesundheitsministerium mit dem Sozialministerium zusammengelegt hatte, stellte die damalige Ministerin, Frau Hartinger-Klein, fest, dass das neue Ministerium für mich keinen Platz als Sektionschef hat. Ein Ausweg war, dass ich mich aus der nationalen Gesundheitspolitik zurückziehe und mich auf meine Aufgaben in der WHO konzentriere. Und dafür benötigte ich eine adäquate Amtsbezeichnung. Und schon war ich Sonderbeauftragter für Gesundheit."
"Am Anfang waren wir alle blind. Ich erinnere mich noch, wie wir Ende Jänner 2020 in der Plenarrunde des WHO-Exekutivrats zusammensaßen und Tedros Ghebreyesus, Generaldirektor der WHO, von seinem Besuch in Wuhan berichtete. Wir nahmen die Ereignisse ernst. Aber wie hyperkritisch die Situation war, wurde uns in der ganzen Radikalität erst durch die erschütternden Bilder in der Lombardei bewusst. Heute sage ich: Das war sehr spät."
"Das Ministerium war durch die Organisationsreform, die die damalige Ministerin Beate Hartinger-Klein angestoßen hat, nicht mehr funktionsfähig. Die letzte Person, die die Funktion eines Chief Medical Officers innehatte, also sozusagen den Amtsarzt der Nation gab, war Pamela Rendi-Wagner. Und aus Angst, dass sie in das Ministerium zurückkommt, hat man den Job gleich abgeschafft. Und weil man beim Aufräumen war, hat man etliche leitende Köpfe in Pension geschickt, abgesetzt oder verschoben. Der Nachfolger, der arme Rudi Anschober, musste dann ein Krisenmanagement installieren, ohne auf die eingespielten Kräfte des Ministeriums zurückgreifen zu können. Um auf die Frage zu antworten: Vorbereitet waren wir nicht."
"Die großen Pharmafirmen sind damals im Frühjahr 2020 in allen europäischen Hauptstädten vorstellig geworden und wollten Verträge über künftige Impfstoffe abschließen. Die Verhandlungssituation war aus Sicht der Hersteller klar: Wer den Vertrag nicht unterschreibt, wird später nichts kriegen. Gott sei Dank hat sich die EU-27 entschieden, gemeinsam einzukaufen. Dazu brauchte man organisatorisch ein Steering Board. Da wurde gemeint, das soll der Clemens Auer gemeinsam mit der Generaldirektorin der europäischen Kommission, Sandra Gallina, machen. Ich hatte bereits Erfahrung mit dem Thema Beschaffung aus der Zeit der Vogelgrippe."
"Bis zum Juni oder Juli 2020 wussten wir gar nichts. Wir wussten, dass einige Entwicklungen in der Pipeline waren. Es gab aber kein Wissen, wie weit oder nah diese Projekte an der Marktzulassung waren. Wir waren im Blindflug. Die Industrie hat uns dennoch zuhören müssen, weil wir über eine Marktmacht und eine Verhandlungsmacht verfügten, die nicht zuletzt auch eine Geldmacht repräsentierte. Österreich alleine hätte gar nichts machen können."
"Uns war im Steering Board klar, dass wir wesentlich mehr Hersteller kontrahieren mussten, als wir jemals brauchen werden. Das Risiko, dass unsere Vertragspartner keine Marktzulassung kriegen, war ja jederzeit gegeben. Wir wussten die geballte Kompetenz der virologischen und pharmazeutischen Topexperten und -expertinnen aus 27 Ländern hinter uns. Die Kehrseite der Medaille war, dass man von einem Wissenschaftsgremium mit 30 Köpfen 60 Empfehlungen erhält. Darunter gab es etliche, die vor mRNA-Impfstoffen warnten. Ich kann mich gut erinnern, dass Sandra Gallina und ich sehr oft spät um Mitternacht telefoniert und beratschlagt haben, mit wem wir reden und wie wir weitermachen. Der politische Druck auf uns beide war enorm, wie sich jeder vorstellen kann. Neben allem wissenschaftlichen Rat war es daher auch ein Stück Bauchgefühl, zu entscheiden, mit wem wir unterschreiben."
"Ich bin ein homo politicus. Die politischen Umstände haben nach einem Schuldigen verlangt. Aber die Folgemonate haben gezeigt, dass man in der Einkaufspolitik und in der Einkaufsstrategie völlig übertrieben hat. Das wäre mir wahrscheinlich nicht passiert."
"Wenn es um die spitzenmedizinische Versorgung in diesem Land geht, verfügen wir unverändert über einen niedrigschwelligen Zugang zu Universitätskliniken und Schwerpunktkliniken. Dort kann jedermann Hilfe finden und nicht nur die soziale Elite. Wo es aber in zunehmendem Maße Unterschiede gibt, ist in der ambulanten, niedergelassenen Versorgung. Und das hat damit zu tun, dass das Kassenvertragssystem die gesellschaftliche und demografische Entwicklung der vergangenen fünfzehn oder zwanzig Jahre nicht mitgemacht hat. Wir wissen alle, dass die Anzahl der Kassenvertragsärzte mehr oder weniger stagniert – und dies bei einer wachsenden und älter werdenden Bevölkerung. Die beiden Faktoren machen die Ausweitung der ambulant niedergelassenen Versorgung notwendig. Das ist nicht geschehen. Da können die Vertreter der Sozialversicherungen mit Berechnungsschlüsseln und Kopfzahlen argumentieren, wie sie wollen. Ich kenne diese Zahlen alle – Matter of fact ist, dass wir in einen zunehmenden Mangel an Kassenvertragsärzten hineinrutschen."
"Das Wahlarztsystem ist nur für Besserverdienende da. Das Erstattungsprinzip bei den Wahlärzten sieht so aus, dass nur 80 % vom Kassentarif zurückgezahlt werden. Der Wahlarzttarif beträgt aber ein Vielfaches des Kassentarifs. Am Ende bezahlt der Patient 150 Euro an den Wahlarzt und erhält 20 oder 25 Euro für eine normale Konsultation von der Kasse refundiert. Das nenne ich Zweiklassensystem."
"Die Politik darf den niedergelassenen Bereich nicht den Stakeholdern allein überlassen."
"Die beiden Interessengruppen können den gordischen Knoten nicht lösen. Die einen wollen Geld sparen und die anderen wollen Leistungen für mehr Umsatz erbringen. Dabei mache ich den einzelnen Ärzten keinen Vorwurf. Ein Allgemeinmediziner mit Kassenvertrag darf heute keine Medizin mehr machen."
"Allgemeinmediziner sind top ausgebildet. Und sie verfügen – wenn man es ihnen erlaubt – über topmoderne Hilfsmittel. Jeder Arzt könnte heute ein kleines Labor betreiben. Jeder Allgemeinmediziner könnte in Wahrheit mit einem Ultraschall arbeiten. Jeder Arzt könnte COPD-Messungen etc. etc. vornehmen. Sie dürfen aber nicht. Und wenn sie es machen, dann machen sie das auf eigene Rechnung. Weil der Allgemeinmediziner diese Leistungen nicht erbringen darf, schickt er seine Patienten zu den Facharztkollegen, die mit dem Ansturm nicht zurechtkommen. Das ist ein inhaltliches Problem, das längst angepackt werden müsste."
"Wenn es um strukturpolitische und versorgungspolitische Fragen geht, dann ist die Ärztekammer immer eine Vertretung des Establishments. Kammervertreter repräsentieren den Platzhirschen. Verhandelt wird von Stakeholder zu Stakeholder, also von Kammer zu Kasse. Die Interessen der Funktionäre orientieren sich an der Ökonomie. Da sehen Verhandlungen so aus, dass sich die vielen Einzelleistungen in Summe rechnen müssen. Und wenn ein oder zwei Positionen vielleicht schlecht tarifiert sind, wird dies bei anderen Leistungen wieder gutgemacht. Unterm Strich passt das dann für alle Beteiligten. Versorgungs- und gesundheitspolitische Aspekte spielen in diesen Überlegungen keine Rolle. Das ist eine Mischung, die nicht gut und nicht gesund ist."
"In Wahrheit muss der Gesetzgeber eingreifen. Die Politik hat das Primat. Wenn die richtigen grundsatzpolitischen Weichen für eine neue ambulante Versorgung gestellt sind, können sich die Vertragspartner untereinander ausmachen, wie sie das umsetzen. Das ist bisher ein einziges Mal gemacht worden: beim Primärversorgungsgesetz. Dort haben wir erstmals und das einzige Mal versorgungspolitische Vorgaben gemacht. Dass die dann leider schlecht im Gesamtvertrag umgesetzt wurden, steht auf einem anderen Blatt. Die Selbstverwaltungsorgane Sozialversicherung und Ärztekammer waren nicht mutig genug, einen wirklich modernen und sinnvollen neuen Gesamtvertrag für diese neuen Organisationsformen zu machen."
"Wir haben in das ASVG geschrieben, dass ein guter Teil der Leistungen nicht mehr in Einzeltarifierungen abgegolten werden soll, sondern mit Pauschalanteilen und Gesamtsummen operiert werden muss. Das hat man nur sehr, sehr zögerlich und letztlich nicht durchschlagekräftig umgesetzt. Man hätte wesentlich mehr tun können. Es gibt ja Landesärztekammern wie in Tirol, die nach wie vor alles tun, damit sich keine Primärversorgungseinrichtung in ihrem Einflussbereich etabliert."
"Das ist natürlich eine mutige Ansage. Aber wenn man ein starkes Solidarsystem will, in dem ich nicht alles dem Markt überlasse, dann muss ich das Wahlarztsystem beschneiden. Das wird in den kommenden zehn bis fünfzehn Jahren das Megathema der heimischen Gesundheitspolitik. Nicht die Selbstverwalter, sondern die Politik hat den Trend zur Zweiklassenmedizin in der ambulanten Versorgung zu bremsen und gegenzusteuern. Um wieder mehr Leute in die Kassenverträge zu bringen, muss ich ein modernes Arbeitsumfeld sicherstellen, das mehrere Arbeitsmodelle zur Verfügung hat, und ich muss garantieren, dass sie ihr ökonomisches Auslangen finden. Wenn die Vertragsärzte wieder Medizin machen dürfen und nicht nur Zettelwirtschaft betreiben, werden sie auch im System bleiben."
"Das war der größte Humbug, den man sich politisch nur leisten konnte. Die Reform hat ausschließlich organisatorische und administrative Maßnahmen gesetzt. Kein einziges der inhaltlichen Probleme im ambulanten Bereich, über die wir hier schon lange reden, wurde dabei in Angriff genommen. Jetzt haben wir einen Moloch mit 16 Mrd. Euro, die einem inadäquaten Management anvertraut wurden. Das sind alles honorige und liebenswürdige Personen. Aber mit der Führung eines Milliardenunternehmens sind sie alle überfordert. "
Quelle: ÖKZ 10/2022, 63. Jahrgang, Springer-Verlag.