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Das österreichische Gesundheitssystem verknöchert. Gesundheitsminister Johannes Rauch will den Finanzausgleich nutzen, eine große Gesundheitsreform anzustoßen. Seine Erfolgschancen sind schlecht. Er weiß das.
Medienmacher pflegen mit den Augen zu rollen, wenn ihnen Berichte aus der Kategorie „kompliziert, aber wichtig“ angedient werden. Denn wenn Dinge schon schwer verständlich sind, sollten sie nicht auch noch fad sein. Es sei denn … Ja, es sei denn, dass sich ein Gesundheitsminister in der Themenvermarktung engagiert und „Systeme an die Wand“ fahren sieht. Das hebt den Spannungsbogen. Daher lassen Sie uns mehr Inhalt wagen: Finanzausgleich. Bamm.
Auch wenn sich der geschätzte Leser jetzt müde fühlt: Das fiskalische Instrument des Finanzausgleichs ist die größte politische Chance, die Weichen des österreichischen Gesundheitssystems für die kommenden Jahre neu zu stellen. „Wir haben ein Zeitfenster, das groß ist und genützt werden muss“, sieht Gesundheitsökonomin Maria Hofmarcher-Holzhacker eine Gelegenheit, ein an seinen Grenzen kratzendes System wieder voll arbeitsfähig zu machen. Eine „Generalsanierung“ sei jetzt unverzichtbar, weil Österreich in eine Phase mit geringem Wirtschaftswachstum und hoher Inflation steuere. „Wenn im Zuge des Finanzausgleichs nichts passiert, gibt es keine Zugriffsmöglichkeiten mehr,“ sieht Hofmarcher keinen Spielraum für nachträgliche Reparaturen.
Die Startveranstaltung für den Finanzausgleich 2024 hat vor Weihnachten stattgefunden. Die Verhandlungen zwischen Gesundheitsministerium, Finanzministerium, Bundesländern und Gemeindebund müssen gemäß Finanzausgleichsgesetz bis Herbst beendet sein.
Es vergeht kein Tag, an dem nicht über Bettenleerstand, Gefährdungsanzeigen, Ärztemangel oder Pflege-Burnout berichtet wird. Die Negativmeldungen aus den Spitälern und Ordinationen machen Gesundheitsminister Johannes Rauch zum meistgezeigten Gesicht der Regierung. Der Vorarlberger ist seit Anfang März 2022 in seinem Amt: Fotos der Angelobung zeigen ihn und Bundespräsident van der Bellen mit Masken und auf Sicherheitsabstand. Nur fünfzehn Monate später und nach der größten Gesundheitskrise der Neuzeit scheinen diese Bilder aus der Zeit gefallen. Die Pandemie-Blase ist wohl auch in den Köpfen geplatzt. Geblieben sind ein bis zum letzten ausgereiztes System und ausgebranntes Gesundheitspersonal, das sich nach zweijähriger Höchstleistung fallen lässt. Seit der Grippewelle im November haben sich die Krankenstände bei den Ärztinnen und Ärzten der Wiener Gemeindespitäler verdoppelt, grumbelte Stadtrat Peter Hacker bei einer Diskussionsrunde auf Ö1. Bei Pflegerinnen und Pflegern zeige sich das gleiche Bild – mit dem Ergebnis, dass in den Notaufnahmen und Intensivabteilungen die personellen Ressourcen unter den Mindeststand fallen. Selbst auf den höchsten Wellenbergen von COVID seien die Krankenstände in den Kliniken nicht auf dem gegenwärtigen Niveau gewesen, meint Peter Hacker: „Da ist jetzt die Luft draußen.“
Mindestens so dramatisch, aber medial weniger wirksam haben sich die Zustände im niedergelassenen Bereich zugespitzt. Allgemeinmediziner klagen über berstende Wartezimmer, Patienten über monatelange Wartezeiten für einen Facharzttermin, die gesetzlichen Krankenversicherungen über eine steigende Zahl kündigender Kassenärzte. Die Zahl der Wahlärzte steigt dafür unerwartet schnell: Die sprichwörtliche Zwei-Klassenmedizin, bei der 200 Euro pro Sprechstunde für einen zeitnahen Facharzttermin gefordert werden, ist spätestens mit der Pandemie zur österreichischen Normalität geworden.
Die Zuspitzung der Versorgungsprobleme im ambulanten, stationären und pflegerischen Bereich haben den Druck auf Gesundheitsminister Johannes Rauch verstärkt. Mit der Erfahrung als Ressortminister wuchs die Einsicht, dass mit lokalen Reparaturen im System nicht mehr das Auslangen zu finden ist. In einem Interview mit der Kronen Zeitung im Jänner prägte Rauch die Formulierung, die seither für die Befindlichkeit des Gesundheitssystems steht: „Schaffen wir es nicht, zu Reformschritten zu kommen, fährt das Ding an die Wand.“ Den Crash-Test beschreibt Rauch: „Da es keine große Bundesstaatsreform geben wird, bleiben uns nur die Finanzausgleichsverhandlungen. Dort besprechen wir, wie die Steuergelder verteilt werden.“ Die Zuteilung von Steuergeldern zwischen Bund, Ländern und Gemeinden sei „der einzige Hebel, um zu Reformen“ zu kommen. „Und den nutzen wir jetzt.“
Thomas Czypionka hält das Bemühen des Ministers für „redlich“. Für den IHS-Gesundheitsökonom ist das gesundheitspolitische Großprojekt einer umfassenden Gesundheitsreform „notwendig, längst überfällig, aber sehr herausfordernd“. Sein Vortrag über die Neuausrichtung der „patient-journey“ quer über ambulante und stationäre Strukturen hinweg – ausschließlich orientiert an den medizinischen und präventiven Notwendigkeiten des Patienten und finanziert aus einer Hand – ist detailliert und abendfüllend. Ebenso wie sein Vorschlag zur Flexibilisierung von Kassen-Verträgen und Leistungsinhalten, um dem Beruf des niedergelassenen Arztes zu neuer Attraktivität und Effektivität zu verhelfen. Viele seiner Punkte finden sich in der einen oder anderen Form in den Skripten der Verhandlungsführer von Bund, Ländern und Kassen. Auf die Frage, ob der Finanzausgleich das richtige Werkzeug sei, um das heimische Gesundheitssystem umzukrempeln, lächelt er: „Es gibt nichts anderes.“ Der Wissenschaftler bleibt aber skeptisch: „Es passiert alles in Zeitlupe. Da ist es fraglich, ob das System sich so schnell verändern kann, wie es die Rahmenbedingungen verlangen.“ Tatsächlich ist der Zeithorizont für eine Modernisierung des heimischen Gesundheitssystems eng. Der wachsende Behandlungs- und Pflegebedarf einer rasch alternden Bevölkerung und die Pensionierungswelle bei Ärzten und Pflegenden lassen wenig Spielraum. „Wir haben viel verschlafen.“
Die Fakten sind bekannt: Österreich verfügt pro Kopf über die zweithöchste Anzahl an Ärztinnen und Ärzten in Europa, hat noch nie soviel Personal im Gesundheitsbereich beschäftigt wie heute und kann nach Deutschland auf die zweitmeisten Krankenhausbetten pro 1000 Einwohner verweisen. Und mit 49,1 Mrd. Euro oder 12,1 Prozent des BIP investiert Österreich im EU-Vergleich überdurchschnittlich viel Geld in sein Gesundheitssystem. 38,5 Mrd. oder 78 Prozent kommen dabei aus öffentlichen Kassen. Österreichs Gesundheitssystem ist umfangreich und teuer, aber nicht effizient. Und es ist nicht steuerbar. Thomas Czypionka bemängelt seit Jahrzehnten „die hohe Anzahl an Vetoplayern im Gesundheitssystem. Es findet sich immer jemand, der die Position hat, sich erfolgreich querzulegen.“
Neben den vielen Entscheidungsträgern mit sehr unterschiedlichen regionalen und politischen Interessenslagen gibt es einen weiteren Grund für die zunehmende Dysfunktion im österreichischen Gesundheitsbereich: Das Gesundheitssystem hat die Struktur einer Zwiebel – eine Schicht legte sich über die andere Schicht. Und niemand schälte die Erdfrucht. So summieren sich Jahrzehnte heimischer Gesundheitspolitik in Maßnahmen, die das System besser machen sollten. Die bereits bestehenden Abläufe wurden aber nicht ersetzt, sondern umgangen. Man rührte die alten Strukturen nicht an, sondern machte sie obsolet. Im schlechtesten Fall bleiben sie in Übung. So sollte keine der beteiligten Interessengruppen – Länder, Kassen, Ärztekammer – einen Nachteil durch die Innovationen erfahren. Für Insider: Die Bundesgesundheitsagentur wird seit 2013 und seit 2017 von der Bundeszielsteuerungskommission ausgehebelt, ohne dass sich an den Organigrammen etwas verändert hätte. Allen Prozessen gemeinsam bleibt: Die einzelnen Interessengruppen erhalten die Zustimmung der anderen Stakeholder nur mit neuen Zugeständnissen. Neben Doppelbesetzungen an Kommissionen und Agenturen brachte dieses Prinzip beispielsweise fünf Finanzierungsschlüssel für Fondskrankenanstalten hervor. Bei jeder Verhandlungsrunde wurde der neue Finanzbedarf frisch auf das Gesamtpaket draufgepappt – mit dem Nachteil, dass die alten, bereits angejahrten Finanzierungsschlüssel weiter Bestand hatten – und Mittelverschiebungen somit sehr schwierig gemacht.
Durch den Unwillen, alte Strukturen zu beseitigen, hat sich das heimische Gesundheitssystem zu einem unübersichtlichen Apparat ausgewachsen, der streng entlang der Grenze aus ambulantem und stationärem Sektor aufgestellt ist. Clemens Martin-Auer hat als Sektionschef im Gesundheitsministerium an zahlreichen dieser Zwiebelschichten mitgearbeitet. Der ehemalige Impfkoordinator und Ex-Vorstand des Exekutivrats der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bezeichnet sich kokett als „Pensionär“. Pointierte Kritik am laufenden System macht ihn zur gesuchten Auskunftsperson. Auer ist seit einer gemeinsamen Finnland-Reise mit Gesundheitsminister Rauch im Sommer des Vorjahres zudem „Konsulent des Bundesministeriums für Fragen des Finanzausgleiches“. Er erkläre „im Ministerium den Leuten, die es wissen wollen, wie die Mechanismen des Finanzausgleiches wirken“, so seine Eigendefinition. Für Clemens Auer ist der Finanzausgleich „nur im übertragenen Sinn ein Reformwerkzeug“. Er regle die finanziellen Beziehungen zwischen Bund, Ländern und Gemeinden. Die Gebietskörperschaften holen sich dabei die Mittel, um ihre aus der Verfassung zugewiesenen Aufgaben wahrnehmen zu können. Die Leistungen sind im System des Finanzausgleichs gesetzlich vorgegeben, nur deren Preis ist noch zu verhandeln.
Wenn Bund und Länder bei den Aufgaben und Kompetenzen etwas verändern wollen, „dann greifen sie zu den 15a-Verträgen“, erklärt der einst einflussreiche Sektionschef. Diese seien das „wahre Werkzeug, mit dem Verhandlungsergebnisse in die Realität gebracht werden“. Die 15a-Vereinbarungen zwischen Bund und Ländern haben den Charakter von Staatsverträgen und werden regelmäßig ungefähr alle fünf Jahre zur Organisation und Finanzierung des Gesundheitswesens beschlossen. Die aktuell gültige 15a-Vereinbarung zur Finanzierung des Gesundheitswesens 2017 – 2020 wurde aufgrund von COVID-19 bis Ende dieses Jahres verlängert – und ist Anlass für die gegenwärtigen Verhandlungen (gleiches gilt für die zweite 15a-VB zur Zielsteuerung im Gesundheitswesen). „Das ist das Spielfeld, auf dem das Match ausgetragen wird“, erklärt Auer. 15a-Vereinbarungen haben aus Sicht der Verhandlungsführer einige handfeste Eigenschaften. Sie werden in Bausch und Bogen per Ministerratsbeschluss im Parlament eingebracht. Die Gefahr, dass regional oder beruflich motivierte Abgeordnete sich ihres freien Mandates besinnen und die beschlossenen Pakete wieder aufschnüren, wird dadurch eingedämmt. Für die Funktionäre der Ärztekammer – in den aktuellen Gesprächen bislang eher auf der Ersatzbank zu finden – war dies immer ein gern genutzter Weg, ihre Interessen im Parlament zu vertiefen. Zweiter großer Vorteil der 15a-Vereinbarungen: Die Vertragspartner verpflichten sich, in ihrem Zuständigkeitsbereich für die legislative Umsetzung der Vereinbarungen zu sorgen. Damit verfügen die Bundes- und Ländervertreter über ein gesichertes Verhandlungsmandat. Die Gefahr ist sehr klein, dass bei einem 15a-Vertrag die Verhandlungsergebnisse zu Hause nicht abgesegnet werden.
Der ambulante Versorgungsbereich benötigt mehr von allem: zusätzliches Personal, neue Organisationsformen, neue Leistungsverträge, digitale Versorgungskanäle und, und, und. Wie viel frisches Geld dafür notwendig ist, ist eine reine Frage der Perspektive. Ökonomin Maria Hofmarcher wirft die Zahl von 1,4 Mrd. Euro in den Ring, die bislang für die Gesundheitsausgaben der Gemeinden reserviert waren. Sie sollten in neue Strukturen der ambulanten Versorgung überführt werden. Im Gegenzug solle man die Kommunen bundesweit von ihren Gesundheitsaufgaben entbinden. Peter Hacker bringt eine „gemeinsame Finanzierungssäule für den ambulanten Bereich in Höhe von 6,9 Mrd. Euro“ ins Spiel, die es in den FAG-Verhandlungen zu sortieren gäbe. Clemens Auer empfiehlt, den Fonds der Bundesgesundheitsagentur als Drehscheibe zu nutzen, um Geld zu den Interessengruppen zu bringen. Im Fonds würden ca. 700 bis 800 Mio. Euro warten, die – über den Umweg der neun Landesgesundheitsfonds – für die Finanzierung der öffentlich-rechtlichen Krankenanstalten vorgesehen sind. Der Bund könne hier frische Mittel für die Länder ausloben, „wenn sie bestimmte Aufgaben auf bestimmte Weise erledigen“.
Eine Gesundheitsreform, die ihren Namen verdienen will, braucht mehr Geld im System. In dem Punkt sind sich Bund, Länder, Gemeinden, Sozialversicherung, Ärztekammer und wahrscheinlich auch der Chauffeur des Ministers einig. Wer in der Sache bislang wenig zu hören war, ist Magnus Brunner. Der ÖVP-Finanzminister spielt im Getöse der Gesundheitsreform die Rolle des Königsmachers. Aus dem Büro Brunners ist nur allgemein zu hören, dass bereits sehr viel Geld im System vorhanden sei und die Effizienzen gesteigert werden müssten. Die Signale in Richtung grüner Gesundheitsminister stehen bis jetzt auf Hold. Beobachter argwöhnen, dass der türkis-schwarze Reflex, einem Koalitionspartner grundsätzlich keinen Erfolg zu gönnen, noch nicht überwunden sei.
Die eigenen Druckmittel von Minister Rauch, die neun Ländervertreter und indirekt – weil keine FAG-Verhandlungspartner – die Kassen für eine Abtausch von Zuständigkeiten und Neuordnung von Strukturen zu gewinnen, sind überschaubar. 2017 hatte der Bund zugestimmt, bei einer Einführung einer Kostenbremse in der Zielsteuerungskommission die Bundesanteile an den Gesundheitskosten zu dynamisieren: Die Überweisungen des Bundes an die Länder werden seither automatisch an die Inflation angepasst – im aktuellen Teuerungshoch von besonderer Bedeutung. „Damit hat der Bundesminister ein wesentliches finanzielles Argument gegenüber den Verhandlungspartnern verloren“, so Thomas Czypionka.
Minister Johannes Rauch weiß um die Zähigkeit des verkrusteten Systems. Dabei herrscht unter den Ländern und Kassen große Einigkeit über den Reformbedarf. Ambulanter Ausbau, mehr Verschränkung, attraktive Berufsbilder und digitale Transformation sind unbestrittene Schlagwörter. Allerdings tendiert die Bereitschaft der Verhandlungspartner gegen Null, dafür neue Wege zu gehen. Einen kleinen Vorgeschmack dazu lieferte Peter Hacker anlässlich einer Diskussionsrunde Mitte April, bei der er im Schlusswort Johannes Rauch aufforderte, endlich mit den FAG-Verhandlungen zu starten. „Wir in den Ländern fragen uns, wann diese Gespräche endlich beginnen.“ Johannes Rauch verschlug es hörbar die Sprache. Peter Hacker war eine Woche zuvor gemeinsam mit den Landeshauptmännern Hans Peter Doskozil, Thomas Stelzer und Markus Wallner im Konferenzraum seines Ministeriums gesessen. Thema: Finanzausgleich im Gesundheitsbereich. Es sind Spielchen wie diese, die das politische Geschäft prägen. Im Interview mit der „Krone“ meint Rauch: „Die Wahrscheinlichkeit, mit diesem Reformvorhaben zu scheitern, ist hoch. Aber es muss jemand die Gnade haben, diesen Versuch zu unternehmen.“
Quelle: ÖKZ, 64. JG, 5/2023, Springer-Verlag.