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Das öster­reichische Gesund­heits­system ist nicht zukunfts­fit

3. Januar 2023 | Josef Ruhaltinger
Thomas Czypionka, Österreichischer Gesundheitsökonom, IHS-Wissenschaftler.
Thomas Czypionka, Österreichischer Gesundheitsökonom, IHS-Wissenschaftler.

IHS-Wissenschaftler Thomas Czypionka zählt zu den einflussreichsten Gesundheitsökonomen des Landes. Er erklärt im Interview, warum Gesundheitsreformen in Österreich nicht vom Fleck kommen und wieso die Hierarchien in der Ärzteschaft ein leistungsfähiges Erstversorgungssystem behindern.

Herr Czypionka, in manchen Interviews heimischer Gesundheitspolitiker wird das österreichische Gesundheitssystem als das beste der Welt bezeichnet. Ist dieses Prädikat verdient?

Thomas Czypionka: Österreich hat sicherlich kein schlechtes Gesundheitssystem. Es gibt viele Errungenschaften. Das Problem ist, dass das System kaum mehr fähig ist, sich zu reformieren. Das österreichische Gesundheitssystem ist nicht zukunftsfit.

Jetzt kommt ein Wortspiel: Woran krankt es?

Wir haben ein Gesundheitssystem, das gut ist im Reparieren und im Behandeln von akuten Erkrankungen. Wir haben kein Gesundheitssystem, das gut ist im Behandeln von chronischen Leiden und im vorbeugenden Verhindern von Beschwerden.

Warum ist das so?

Wir haben das analysiert. Österreich hat eine Höchstzahl an sogenannten Veto-Playern. Veto-Player sind Entscheider, die im politischen Prozess wirksam Einspruch erheben können. Das tun sie immer dann, wenn ihre Machtsphären berührt werden. Wenn es viele Veto-Player gibt, dann gibt es kaum Reformen. Der kleinste gemeinsame Nenner wird so zur gängigsten Maßeinheit.

Wer sind unsere Veto-Player?

Die heimischen Strukturen im Gesundheitssystem sind mehrschichtig. Unser Land verfügt über eine föderale Struktur mit neun Bundesländern, die zahlreiche Kompetenzen im Gesundheitssystem überhaben. Und wir haben berufliche Interessenvertretungen, die vom Gesetz her vorgegeben sind. Diese Matrix aus Föderalismus und Sozialpartnern ergibt eine vergleichsweise hohe Anzahl an Veto-Playern. Dazu kommen die Berufsvertretungen, also die Ärztekammern, die bundesländermäßig strukturiert sind, und die Apothekenkammer. Und weil wir in Österreich sind, spielt die Parteizugehörigkeit auch noch eine Rolle. Das heißt, es gibt sehr viele Fraktionen, die mitreden wollen – und nein sagen können.

Die Ärztekammer hat ihre Mitsprache­rechte gesetzlich verbrieft. Wieviel offiziellen Einfluss darf eine Standesvertretung auf ein Gesundheitssystem haben?

Das ist sicher eine Eigenart des heimischen Systems. Die Ärztekammer ist eine starke gesetzliche Interessenvertretung, der auch eine besondere Rolle im Verhältnis zur Sozialversicherung beigemessen wird. Wir haben die eigenartige Konstellation, dass der österreichische Strukturplan durch die Regionalstrukturpläne in den Ländern umgesetzt wird. Dort werden die Stellen definiert. Aber sie müssen trotzdem noch mit der Ärztekammer verhandelt werden. Da hat sich der Gesetzgeber nicht getraut, in diese doch sehr starke Rolle der Ärztekammer einzugreifen.

Wo ist das Gesundheitssystem besonders reformbedürftig?

Die größte Kluft tut sich mittlerweile im Verhältnis zwischen intramuralem und extramuralem Bereich auf. Es gab viele Reformversuche: 2005, 2008, 2013 wurde versucht, die Schnittstellen besser zu organisieren. Die Resultate mündeten in kleinen Verbesserungen, aber es gab keine substanziellen Veränderungen. Jetzt haben wir neue Rahmenbedingungen: Durch die Bevölkerungsentwicklung – die Einwohnerzahlen in den Ballungsgebieten steigen, der Anteil der Ü60-Generation wächst rapide – kommen wir in immer größeren Zugzwang. Die kleinen Schritte, auch wenn es mehrere sind, reichen nicht mehr. Und für einen großen Sprung fehlen uns die Voraussetzungen – bis jetzt.

Die Zweiklassenmedizin ist im nieder­gelassenen Bereich Realität, während der Krankenhausbereich deutlich niederschwelliger agiert. Ich habe den Eindruck, man erhält leichter eine Bypass-Operation am Herzen als einen Termin beim sportorthopädischen Kassenarzt. Woher kommt dieses Ungleichgewicht zwischen intra- und extramuralem Bereich?

Wir haben die Problematik, dass es keinen Stakeholder gibt, der die Behandlungsprozesse von Anfang bis Ende plant und kontrolliert. Niemand hat Zugriff. Das geht bei akuten Erkrankungen noch gut. Bei chronischen Erkrankungen wird es schon schwieriger. Unsere Diabetes- und Hochdruckpatienten kommen nur unzureichend zu den richtigen Leistungen. In Österreich gibt es deutlich mehr Unterschenkelamputationen bei Diabetikern als in anderen Staaten mit vergleichbarem Anspruch. Da sind wir einfach schlecht. Dabei wären chronische Erkrankungen im niedergelassenen Bereich gut zu kontrollieren, wenn das System dies erlaubt. Und trotzdem kommen die Leute mit derartigen Diagnosen sehr zahlreich in unsere Spitäler.

Primärversorgungszentren treten an, um den Patienten eine umfassendere Betreuung bis hin zur Ernährungsberatung zu bieten. Können PVZ bei diesem Problem Abhilfe schaffen?

Wir wissen aus vielen Studien, dass primärversorgungsorientierte Systeme bessere Outcomes liefern. Wir haben allerdings institutionelle Hürden. Es gibt in Österreich im Gegensatz zu sehr vielen anderen Ländern auf dieser Welt eine sehr starke Hierarchie zwischen den Arztgruppen, die den Ausbau der ambulanten Versorgung behindert. Der Status von Fachärzten und jener von Allgemeinmedizinern ist sehr unterschiedlich. Gefühlt sind erstere für die komplizierten Aufgaben da, letztere heilen Schnupfen und Husten. Das ist ein völlig falsches Bild davon, wer was macht.

Was meinen Sie damit?

Wir haben in einer Studie eine Fokusgruppe internationaler Primärversorger gebildet, um zu schauen, wie Primärversorgung wirklich funktioniert. Dort haben wir gefragt: Wofür fühlt ihr euch zuständig und was ist die Sache von Fachärztinnen und Fachärzten? Die Antwort war einhellig: Alles ist unsere Sache. Es sei denn, wir kennen uns in einem bestimmten Bereich nicht mehr aus. Dann fragen wir den Fachkollegen. Es ist die Idee der Primärversorgung, dass der Allgemeinmediziner grundsätzlich für alle medizinischen Belange zuständig ist. Die Fachärzte spezialisieren in die Tiefe. Allgemeinmediziner müssen über sehr viel Wissen in der Breite verfügen. Da sitzen alle Schicksale im Wartezimmer – von der Grippe über die Autoimmunerkrankung bis zum Krebs im Frühstadium. Das Anforderungsprofil ist enorm. Dem muss das System in der Ausbildung gerecht werden.

Die Ausbildung der Allgemeinmediziner erfährt zur Zeit eine Veränderung zum Facharzt. Sehen Sie da eine Chance, dass die Ausbildung diesen Ansprüchen gerecht wird?

Wir haben in der Ärzteausbildungsordnung 2015 Fortschritte gemacht. Aber man hat es nicht gewagt, die Allgemeinmediziner den Fachärzten wirklich gleichzustellen. Allgemeinmediziner müssen deutlich näher an den Ordinationsalltag herangeführt werden. Das Ergebnis ist eine Underperformance des Systems. Die Kapazitäten werden nicht effizient genutzt. Darum klagen die Ärztinnen und Ärzte im Hospital über die Überlastung und die Patientinnen und Patienten im ambulanten Bereich über lange Wartezeiten und Unterversorgung. Wir nutzen unsere Möglichkeiten nicht.

Was wären typische Hebel zur Effizienzsteigerung?

Finanzströme. Da erzielen wir die raschesten Effekte. Wir sehen seit der Einführung des ambulanten LKF-Systems, wie der Ambulanzbereich deutlich effizienter geworden ist. Es kommt zu wesentlich geringeren Zahlen an stationären Aufnahmen, als dies früher der Fall war.

Das müssen Sie genauer erklären …

Die Hospitäler erhalten jetzt für die Ambulanzbehandlung eine Vergütung, die sie vorher nicht bekommen haben. Vorher hat es nur eine Pauschalabgeltung für die Ambulanzleistungen gegeben. Egal, ob viele oder wenige Leute in die Ambulanz gekommen sind, wurde dem Krankenhaus stets das gleiche Budget zugemessen. Jetzt wird jeder Aufenthalt des Patienten in der Ambulanz entsprechend dem Aufwand vergolten. Diese Maßnahme hat zu einer Verschiebung der Behandlungen in den Ambulanzbereich geführt.

Lerne ich daraus, dass wir die Ambulanzen in den Spitälern forcieren sollen?

Nein. Es existieren viele institutionelle Probleme, die eine solche Ambulantisierung behindern. Wir haben dazu auch eine Studie gemacht, wo wir gesehen haben, wie viele Aspekte hier mit hineinspielen. Das fängt an bei den Investitionen: Für eine ambulanz-orientierte Versorgung im Hospital brauche ich andere Strukturen als für ein Spital, das auf den stationären Bereich fokussiert ist. Dazu kommt die aus meiner Sicht unbegründete Furcht des Krankenhauspersonals, den Arbeitsplatz zu verändern. Wir haben in der Studie durch Interviews erfahren, dass einzelne Berufsgruppen wussten, dass sie den extramuralen Bereich forcieren könnten, aber besorgt waren, was mit ihrem Arbeitsplatz im Spital geschehen würde. Also holten sie weiterhin Patienten in das Hospital, um dort die Behandlungen durchzuführen.

Die offizielle Politik lautet, den nieder­gelassenen Bereich zu stärken und den stationären Gesundheitssektor zu entlasten. Was ist jetzt aus Sicht des Gesundheitsökonomen richtig?

Das passt schon. Allerdings ist die Transformation nicht so einfach. Unsere Studie hat gezeigt, dass die Sozialversicherungen und die Krankenkassen im niedergelassenen Bereich ein sehr ausgeklügeltes Tarifsystem etabliert haben, das mit Determinanten wie Obergrenzen, Deckelungen und Gesamtvolumen agiert. Die Ärzteschaft hat im niedergelassenen Bereich häufig quantitative Schranken: Wenn sie bestimmte Untersuchungen oder Fallzahlen überschreiten, zahlt die Sozialversicherung nichts oder weniger. Daher überweisen sie in den intramuralen Bereich. Völlig anders in den Ambulanzen: Dort schaut kein Mensch, wie viele Blutbilder und wie viele Blutgasmessungen gemacht werden. Ein weiterer Grund, wa­rum wir so viele Selbstzuweiser haben: Die suchen den One-stop-Shop der Spitals­ambulanzen.

Was meinen Sie damit?

Selbstzuweiser sind Personen, die nicht von einer Praxis in das Spital geschickt werden, sondern selbstbestimmt das Krankenhaus aufsuchen. Das ist in vielen Ländern gar nicht möglich. Diese Kaste der Selbstzuweiser entsteht dadurch, dass wir im niedergelassenen Bereich es nicht geschafft haben, eine integrierte Versorgungsstruktur aufzubauen. Wir haben vorwiegend Einzelpraxen. Das heißt für mich als Patient, dass ich einen ersten Termin ausmache. Der Arzt überweist mich zum Röntgen und zu einem Labor, eventuell auch zu einem Ultraschall. Für den Patienten bedeutet dies, drei Termine auszumachen und drei Mal zum Facharzt zu gehen. Das dauert Wochen. Im Krankenhaus hat der Patient gelernt, dass es alle Leistungen auf einmal gibt. Ich muss nur ein Stockwerk wechseln und bin in einem halben Tag fertig. Daher gehen die Patienten mit ganz banalen Symptomen in die Ambulanz – natürlich auch wegen der liberaleren Öffnungszeiten.

Helfen die Erstversorgungseinrichtungen in den Spitälern? Die wurden eingeführt, um den Ansturm zu kanalisieren.

Die Hospitäler versuchen damit gegenzusteuern. Die Zustände und Wartezeiten waren in manchen Häusern nicht mehr tragbar. Ich höre aber anekdotisch, dass diese neuen Einrichtungen unterschiedlich gut funktionieren. Es kommt darauf an, ob da erfahrene Internisten oder Allgemeinmediziner eingesetzt werden oder ob man diesen wenig begehrten Dienst an das jüngere Personal abtritt – was meist der Fall ist.

Gibt es eine Lösung für den Mangel an Pflegekräften?

Es wurde für lange Zeit nicht anerkannt, dass die Pflege ein zentraler Schlüssel für die medizinische Versorgung ist. Ich kann keine Station betreiben, ohne die notwendigen Pflegekräfte zu haben. Bei einem steigenden Bedarf in der Altenpflege benötige ich zusätzliche Kräfte. Wir brauchen aber auch mehr und spezialisiertere Kräfte im Hospital, weil die Tätigkeiten immer komplizierter werden. Der medizinische Fortschritt verlangt nach immer mehr Kenntnissen und Leistungen. Das heißt, die Behandlungen, die den Ärzten bei einem Patienten zur Verfügung stehen, werden immer zahlreicher. Früher gab es eine Therapie, heute gibt es drei Behandlungsmöglichkeiten. Die werden alle ausprobiert. Dadurch, dass die Medizin immer umfangreicher wird, brauche ich auch immer mehr Personal, um die unterschiedlichsten Anwendungen auch umzusetzen. In Zukunft werden Betten reduziert werden, aber nicht das Personal.

Haben Sie Zahlen?

Der Personalbedarf wächst in den Spitälern ungefähr mit einem Prozent pro Jahr. Vom steigenden Bedarf in der Altenpflege rede ich noch gar nicht. Heute stellen sich alle Betroffenen die Frage: Woher sollen die Menschen kommen?

Wird die Pflegereform mit ihren Ansätzen zur Pflegeassistenz etwas bewirken?


Entscheidend ist das Berufsbild, das hauptverantwortlich ist, für welchen Beruf sich Menschen entscheiden. Niemand möchte einen Beruf ergreifen, der gering geschätzt wird. Der Beruf des Pflegers ist ein erfüllender Beruf. Das Image ist aber nicht gut. Und es fehlen klare Karrierepfade. Ein junger Mensch sucht ein Arbeitsgebiet, in dem er sich weiterentwickeln kann. Platt gesagt: Jeder Arzt will Primar oder Praxisbesitzer werden. Das Äquivalent unter den Pflegediensten fehlt weitgehend. Zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung des Berufes. Und das muss sich mit einer deutlich höheren Wertschätzung in und außerhalb der Krankenhäuser ändern. 

Quelle: ÖKZ, 63. JG, 12/2022, Springer-Verlag.

Dr. Thomas Czypionka

ist Leiter der Forschungsgruppe Health Economics und Health Policy am Institut für Höher Studien IHS. Er lehrt an mehreren Universitäten und ist außerdem als Berater in der Gesundheitspolitik tätig. Er ist ausgebildeter Mediziner (Doktorat sub auspiciis praesidentis), Volkswirt und Absolvent einer Zusatzausbildung in Gesundheitsökonomie. Derzeit ist er außerdem Vize-Präsident der Austrian Health Economics Association (ATHEA).

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