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Intelligenz soll nicht künst­lich sein

9. Juni 2023 | Josef Ruhaltinger
Businessman mit Brille.
Businessman mit Brille.

Österreichs Gesundheitssystem begegnet der Technologie der Künstlichen Intelligenz mit großer Neugier – und noch größerer Ohnmacht. Strategien und Geldmittel fehlen komplett – ebenso wie der geregelte Umgang mit Gesundheitsdaten.

Es war nicht ChatGPT, das den Methoden der Künstlichen Intelligenz zum Durchbruch verholfen hat. Das haben Jahre zuvor bereits ganz andere Programme geschafft. Aber ChatGPT hat das KI-Thema binnen weniger Wochen auf Stammtisch-Niveau gebracht – im besseren Sinne des Wortes. Damit wurde KI in den gesellschaftspolitischen Diskurs gehievt. Ein „verbessertes Verständnis für die Tragweite der KI-Methoden“ wäre die logische Konsequenz, ist Lars-Peter Kamolz überzeugt. Der Leiter des Institutes für plastische Chirurgie an der MedUni Graz nützt mit seinen Kollegen seit Langem die Möglichkeiten von KI-basierter Datenarbeit. Mit Beginn der Pandemie wurden in einem Projekt die Grundlagen für ein KI-getriebenes Softwarepaket gelegt, mit dessen Hilfe ein Grippe-Infekt und eine Verkühlung von einer COVID-Infektion unterschieden werden können. Das System lernt, die beobachteten Krankheitszeichen zu bewerten, und liefert einen Diagnosevorschlag. 

„KI hat das Potenzial, riesige Informationsmengen für den behandelnden Arzt in kurzer Zeit fassbar zu machen“, beschreibt Kamolz einen der Vorteile der neuen Technologie. Es sei für ihn nur konsequent, „wenn in Kürze ein Format wie ChatGPT den Entlassungsbrief formuliert“. Mit einem Gegencheck des medizinischen Personals sei das wichtige Dokument zeitsparend und elektronisch verfügbar gemacht. „Zeiteffizienz“ sei das zweite Zauberwort, das ihm zu KI einfiele, so Kamolz. Der Grazer Chirurg – Schwerpunkt Schwerbrandverletzte – hat keine Zweifel, dass „sich die Technologie auf breiter Ebene durchsetzen wird“.

 

Heiß gekocht

Die Geschwindigkeit, mit der Künstliche Intelligenz Muster erkennt, ist atemberaubend. Klinische Studien zeigen, dass sich mit dieser Technologie schon aus den Gesundheitsdaten von Zweijährigen ablesen lässt, welche Kinder einem besonders hohen Risiko ausgesetzt sind, später an Übergewicht zu leiden. Dadurch würden sich die Therapiemöglichkeiten signifikant verbessern. Ähnliche Fortschritte wie beim Übergewicht erhoffen sich Experten auch in Bezug auf Demenz. Die beiden in einer Studie des Beratungsunternehmens PwC angeführten Beispiele unterstreichen, wie umfassend die Möglichkeiten sein werden, die das Schürfen in hunderten Milliarden von Daten ermöglicht. Für Andreas Hladky, Leiter des Bereichs Digital Consulting bei PwC Österreich, werden die Konsequenzen von KI im Gesundheitsbereich – und nicht nur dort – viel zu konservativ gedacht. „Wir tendieren dazu, uns neue Technologien in den bestehenden Strukturen vorzustellen. Aber dieses Setup wird es künftig nicht mehr geben.“ Das medizinische Hauptgeschehen wie Diagnostik und Behandlung werde sich künftig im Wohnzimmer abspielen, wo bildgebende Verfahren, virtuelle Assistenten und Diagnostik-Wearables die zentrale Verbindung des Bürgers und der Bürgerin zum Gesundheitssystem einnehmen werden. Patienten helfen sich anhand der vorliegenden Daten mithilfe der Diagnostiksoftware selbst, so Hladky. Ärzte, Ordinationen, Spitäler, Pfleger würden sich um den Rest kümmern, also um alle Fälle, wo Patienten physisch betreut, eingeschult oder aus Compliancegründen informiert werden sollen. Der PwC-Berater prophezeit im Bereich der Erstversorgung die völlige Umkehr der aktuellen „Patient Journey“, wie der Marsch der Patienten durch das Gesundheitssystem unter Analysten genannt wird. Als Folge wird sich die Positionierung der Allgemeinmedizin als Kanalisierungsinstanz verändern. Aber auch die Aufgaben anderer niedergelassener Fachbereiche weichen sich im KI-Szenario auf. Viele Zukunftsvisionen erwarten durch KI-Methoden eine starke Verlagerung von der ambulanten Versorgung direkt zum Patienten, der KI-gestützte Diagnosen und Therapien über telemedizinische Kanäle in Anspruch nimmt. Andreas Hladky hält die Entwicklung für unausweichlich – schon allein „aufgrund der Technologien und der Tatsache, dass das System schon jetzt knirscht“.

 

Black Box Daten

ChatGPT hat ein Datenproblem. Dies überrascht – angesichts von angeblich 175 Milliarden Parametern, die dem Werkzeug antrainiert wurden. 300 Millionen Wörter schlummern in der Software von OpenAI, um mit dem Nutzer über von Geisterhand gezauberte Texte zu kommunizieren. Aber ChatGPT kann nichts lernen. Sein Wissen endet mit Mitte 2021. Und das Tool hat keine Verbindung zum Internet. Daher haben derzeit alle Auskünfte den Stand von vor zwei Jahren. Sepp Hochreiter, nobelpreisverdächtiger KI-Professor aus Linz, ohne dessen Grundlagenforschung Siri und Alexa immer noch stumm wären, fragt sich: „Wie valide sind Auskünfte?“ Er weist darauf hin: Wer die Datengrundlage kon­trolliert, kontrolliert den Output.

ChatGPT repräsentiert die Bezirksliga der KI-Tools. Oder wie Sepp Hochreiter meint: „Es kann nicht logisch denken.“ Es ruft bloß antrainierte Informationen ab, die es zu formulieren versteht. Die Champions League der Künstlichen Intelligenz ist aber „Deep Learning“: Einer der wichtigsten Vorteile von Deep Learning-Algorithmen ist, dass Programme selbst dazulernen und Informationen in einer Vielzahl von versteckten Analyseebenen bearbeiten können. So können Muster erkannt werden, die von Menschen übersehen werden. Dabei zieht das KI-System auf Grundlage der eingegeben Daten seine eigenen Schlüsse und merkt sich diese. Aber irgendwann fragt sich der Nutzer: Wie kommt mein KI-Werkzeug zu diesem Ergebnis? Hilft das Pferdeentwurmungsmittel Ivermectin wirklich gegen das COVID19-Virus? Oder empfiehlt es dies nur, weil die Daten von einem assoziierten Server-Netzwerk von Fox News eingespielt werden?

Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass bald auch im Gesundheitsbereich alternative Fakten den evidenzbasierten Main­stream-KIs gegenübergestellt werden. Die beiden IHS-Ökonomen Thomas Czypionka und Fabian Hobodites formulieren die Vorbehalte in einem Aufsatz zur Gesundheits-KI allgemeiner: „Das sogenannte ‚Black Box-Problem‘ beschreibt das Phänomen, dass der Weg, wie sich neuronale Netze bilden, per definitionem nicht vorgegeben und damit nicht nachvollziehbar ist.“ Der Wert von Informationen bestimmt sich durch deren Quellen. Nur hochwertige Quellen erlauben hochwertige Schlussfolgerungen.

KI-Software braucht Spielregeln. Dies sei aber bei der Einführung von neuer Technologie der Normalfall, zeigt sich Albert Frömel nicht beunruhigt. Er wünscht sich zuerst das Werkzeug, um dann über dessen Regulierung nachzudenken: „KI ist eine entscheidende Technologie, die sehr viel verändern wird.“ Es sei für Österreich und für das Gesundheitssystem „sehr, sehr wichtig“, die Entwicklung nicht zu verschlafen. Für den Health-Experten des Beratungsunternehmens Zühlke sind KI-Methoden die „Ideen-Geber und Kontext-Finder“. Die Technologie bringe den Nutzer auf neue Ideen. Tatsächlich liefert sie Interpretationen von Sachverhalten, auf die der Anwender selbst nie gekommen wäre. „Ob der Arzt den Vorschlag der KI als sinnvoll empfindet oder nicht, bleibt ihm überlassen. Aber er kann sicher sein, dass seine Symp­tombeschreibungen mit den aktuellen Studien der Mayo-Klinik abgeglichen werden“, nennt Frömel die künftige Möglichkeit jedes Gemeindearztes, die Leiden seines Patienten mit den Arbeiten der global ersten Adressen der medizinischen Forschung abzugleichen. Frömels Lieblingsbeispiele kommen aus dem Bereich der Seltenen Erkrankungen. Deren Patienten haben in der Regel einen jahrelangen Leidensweg hinter sich, bis sie die richtige Diagnose erhalten. „Mit der Anwendung einer guten KI-Diagnostik werden Leerläufe radikal abgekürzt“, ist sich Frömel sicher. Auch bei der Administration des Gesundheitssystems – angefangen von den Spitälern bis hin zu Krankenkassen und Ordinationen – führe kein Weg an der KI-Technologie vorbei. Dokumentationen werden bald durch KI-gestützte Spracherkennung bis hin zur Kombination mit bildgebenden Untersuchungen erledigt.

Die Botschaft verfängt: Der Zühlke-Berater beobachtet bei vielen Entscheidungsträgern in den Ordinationen und Kliniken einen starken Trend zur Implementierung von KI-gestützter Software. Sie wollen sich und ihr Team von Aufgaben freispielen, die nicht mit der Kernkompetenz der Patientenbetreuung zu tun haben oder – wie im Fall der Diagnostik – mit Künstlicher Intelligenz ihr medizinisches Fachwissen schärfen. Aber fragt man Frömel nach dem Veränderungspotenzial von KI-Technologie für das öffentliche Gesundheitssystem, ist es mit dem Optimismus vorbei: „Gar keines“. Der Aufbau des österreichischen Gesundheitssystems sei viel zu starr, um die vielen Abkürzungen zu nutzen, die KI-Werkzeuge bieten.

 

7 Millionen Euro

Ein eHealth-System mit KI-Technologie verlangt nach integrierten Strukturen – bei den Daten und in der Administration. Bundesländerzugehörigkeit, Versicherungszugehörigkeit, ambulant oder stationär – diese Kategorien verlieren ihre Bedeutung. Umgelegt auf österreichische Verhältnisse sind dies schlechte Nachrichten. Der Starrsinn des österreichischen Gesundheitssystems – und der vielen, vielen Vetoplayer – hat mittlerweile dazu geführt, dass sich der Reformwillen der Akteure bei Kompetenzen und Finanzierungen ausschließlich auf die Bereiche der anderen Stakeholder bezieht. Einer großen Zahl an Realisten mit dem Motto „da geht nichts“ steht eine immer kleiner werdende Schar an Idealisten gegenüber, die ihre Haltung am Satz: „Wir probieren es“ ausrichten.

Grundlegende Herausforderung ist der Aufbau eines tragfähigen Datenpools im Gesundheitsbereich. KI ist nur so gut wie ihre Daten. Über die ungenutzte Menge an Gesundheitsinformationen und zahllosen Datensilos in Spitälern, unzähligen Datenspeichern der Krankenkassen, neun ELGA-Servern und – ein völlig braches Land – die Patienteninfos in den tausenden von Ordinationen ist viel geschrieben worden. Ob es dafür einen zentralisierten Pool oder eine funktionierende Vernetzung mehrerer Datensammelstellen quer über Österreich gibt – darüber gilt es zu streiten. Wenig Spielraum gibt es bei der Notwendigkeit, die Gesundheitsdaten gesetzlich verfügbar zu machen. Wie immer liegt das Problem bei den Zuständigkeiten und der Definition, wem die Daten eigentlich gehören. Ohne Gesetzesänderungen sind derzeit aber Gesundheitsdaten kaum zu mobilisieren – eine Voraussetzung, die auch für alle ELGA-Daten gilt. Diese sind weder technisch noch legistisch für eine weitere Nutzung verfügbar (siehe Interview, Seite 16). PwC-Partner Andreas Hladky fordert eine dramatische Ausweitung der Datenpools. Er ist überzeugt, dass dies bei Umsetzung des KI-Themas „der größte Job ist, der erledigt werden muss. Hier ist die Politik dringend gefragt.“

Für eine KI-Offensive braucht es Investitionen. Die bisherigen Versuche, die Methode der Künstlichen Intelligenz in Regierungsstrategien einzubetten und mit Budgets auszustatten, seien „zum Weinen“, so KI-Professor Sepp Hochreiter. Ihm schießt die Zornesröte ins Gesicht, wenn er über offizielle Pläne und Konzepte zu Künstlicher Intelligenz befragt wird. Österreich habe keine KI-Strategie, und alles sei „saublöd gelaufen“. Genau zum Zeitpunkt, als sich im Wirtschaftsministerium ein paar Leute zum Thema Gedanken machen wollten, passierten auf politischer Ebene ein paar Hoppalas, die in mehreren Regierungswechseln mündeten. Dann sei alles „liegen geblieben“, erinnert sich Hochreiter nur ungern. Übrig blieb ein Papier, das von der damaligen Wirtschaftsministerin Margarethe Schramböck in Alpbach präsentiert wurde. Geplantes Budget: 7 (sieben!) Millionen Euro.

Zum Vergleich: Aktuell schießen quer durch Europa hochfinanzierte KI-Institute aus dem Boden. Die Niederlande haben ihre KI-Strategie mit zwei Milliarden Euro ausgestattet und Amsterdam zu einem KI-Hotspot in Europa gemacht. Der Erfolg stellte sich rasch ein: Bosch hat seine KI-Labors nach Amsterdam gelotst, Google Brain arbeitet dort und zuletzt hat Microsoft seine europäischen KI-Aktivitäten in der niederländischen Hauptstadt angesiedelt. Andere Staaten investieren ebenfalls heftig in KI: Die ETH Zürich plant, 200 Millionen für ein spezialisiertes ELLIS-Ins­titut zu investieren – einem Netzwerk aus europäischen KI-Instituten (bei dem Hochreiter im Vorstand sitzt). Kopenhagen hat gerade einem bestehenden KI-Institut eine 45 Millionen-Spritze verpasst, London hat das Alan Turing Institute wachsen lassen, in Helsinki gibt es ein KI-Institut mit Investitionen von 200 Millionen. Die Chancen, rund um Linz ein vergleichbares KI-Projekt hochzuziehen, wären groß. Sepp Hochreiter erzählt immer wieder von den Firmenanfragen, die er und sein Team mangels Ressourcen nicht bewältigen können.

Als Hoffnungsschimmer bleibt die neue Digital Universität in Linz. Hatte es erst den Anschein, als ob die neue TU ohne Schwerpunkt KI auskommen könnte – Sepp Hochreiter ritt zahlreiche mediale Attacken auf die „Digitaluni ohne Digitalisierung“ – so liegen jetzt neue Konzepte am Tisch. Der Professor ist zuversichtlich, dass „es doch in eine Richtung geht, die vernünftig ist“. Eine bundesweite Initiative für KI und im Speziellen im Gesundheitsbereich ist aber nicht in Sicht – ebenso wenig wie die Verwirklichung eines – angedachten – Institutes für Medizin-KI in Linz. Die Spekulationen Hochreiters, aus Linz wegzugehen, haben aber an Deutlichkeit verloren: „Ich verfüge hier über ein gutes Team.“ Ob es den 56-Jährigen in Linz bis zur Pension hält? Soweit will er sich nicht festlegen. „Schaun mer mal.“

Quelle: ÖKZ, 64. JG, 3-4/2023, Springer-Verlag.

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