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Die Gesundheitsreform 2024 liefert mehr als befürchtet und weniger als erhofft. Für Österreichs Gesundheitssystem ist sie unverzichtbare Voraussetzung, um den Herausforderungen der Demografie begegnen zu können. Im Interview: Martin Sprenger und Gesundheitsminister Johannes Rauch.
Wenn man in alten Zeiten der Stimme des Volkes lauschen wollte, ging man ins Wirtshaus oder fragte den Taxifahrer. Heute liest man Tweets oder schwimmt durch Internetforen. In der Community der Tageszeitung Der Standard schrieb Wuzel77 anlässlich eines Berichts zur Gesundheitsreform: „Ich bemühe mich derzeit um eine Kassenstelle für Allgemeinmedizin. Aber aufgrund der anstehenden Reform überlege ich, es bleiben zu lassen.“ Die Gefahr sei beträchtlich, dass „in 2 Jahren ein durch öffentliche Gelder gefördertes Ambulatorium in der Nachbarschaft stehen werde“. Die Befürchtung von Wuzel77 ist nachvollziehbar. Wenn in Zukunft die Architekten des Regionalen Strukturplans Gesundheit RSG und die Österreichische Gesundheitskasse ÖGK zur Ansicht kommen, die Region rund um seine Praxis sei unterversorgt, dann können frische Kassenstellen oder andere Formen der ambulanten Versorgung ausgeschrieben werden – auch ohne Zustimmung der Kammervertretung. Voraussetzung: Vorher müssen laut Reformentwurf mindestens drei Ärztestellen in der Gegend zweimal erfolglos ausgeschrieben werden.
Das Posting von Wuzel77 unterstreicht, welche Aufgabe die Ärztinnen und Ärzte ihrer Kammer zumessen. Der Gebiets- und Investitionsschutz steht dabei ganz oben auf der Liste.
Lange Zeit sah es aus, als ob die Vertreter der Ärztekammer nur wenig Anteil an den Verhandlungen zur Gesundheitsreform nähmen. Zu sehr schienen die Interessenvertreter in Weiß mit sich selbst beschäftigt. Als ÄK-Präsident Johannes Steinhart 14 Tage vor dem unverzichtbaren Ministerrats-Beschluss zur Reformrevolte blies, zeigte sich der Gesundheitsminister entsprechend unbeeindruckt. Johannes Rauch wähnte bis zuletzt Ländervertreter und Koalitionspartner auf seiner Seite. Vor allem glaubte er, sich auf seinen Landsmann Magnus Brunner verlassen zu können. Der Finanzminister war für das Gesundheitsministerium erster Ansprechpartner in allen finanzrelevanten Punkten des Maßnahmenkatalogs. Ohne Konsens zwischen Finanz- und Gesundheitsminister ging gar nichts.
Dem Vernehmen nach teilte Magnus Brunner lange Zeit die Pläne des Gesundheitsministers –, bis Bundeskanzler und Finanzminister einen Tag vor dem Ministerratsbeschluss aus dem Parlament ernstzunehmende Signale erhielten. Klubobmann August Wöginger warnte die schwarze Regierungsriege, dass er seine Leute nicht mehr länger in Zaum halten könne. Seine Abgeordneten würden unter dem Druck der Kammervertreter zunehmend weich werden. Für Johannes Rauch bedeutete dies zweierlei: Es sah so aus, als ob die bewährte Taktik der lobbyerprobten Fraktion rund um Johannes Steinhart wieder aufginge: Sie bearbeiteten die schwarzen Mandatare solange, bis die anfingen, die ausgehandelten Positionen infrage zu stellen. Die Ergebnisse wurden einige Stunden vor dem Ministerrat bekannt:
Für Andreas Huss ist die Verteidigung von Kammerinteressen völlig in Ordnung. Er lässt keinen Zweifel, dass er als Gewerkschafter die Wahrung der Standesperspektive als natürliche Aufgabe einer Berufsvertretung sieht. Sein Verständnis endet dort, wo „eine Kammer über die Schaffung der eigenen Arbeitsplätze entscheiden kann“. Dass die Jobs von „Dritten zu bezahlen sind“, mache die Situation nicht einfacher.
Natürlich ist die Meinung von Andreas Huss nicht objektiv: Als Obmann der Österreichischen Gesundheitskasse ÖGK sind er und seine (selbstverwaltete) Organisation die Antipoden zur Ärztekammer. Da macht man nicht unbedingt Werbung füreinander – und für niemanden anderen. Der gelernte Tischler mit MBA-Abschluss in Health Care Management will daher die Rauchsche Gesundheitsreform nicht zu hoch heben: Er hatte zu Beginn der Reformverhandlungen vom Bund 800 Mio. Euro für den Ausbau des ambulanten Bereiches verlangt. 300 Millionen sind es für die Gesundheitskasse geworden.
Aber, und soweit ringt sich der aktuelle Obmann der ÖGK durch – er wechselt sich skurrilerweise alle sechs Monate im Vorsitz mit dem Arbeitgeber-Vertreter Matthias Krenn ab – „grundsätzlich finden wir unsere Hauptforderungen im Reformpaket abgebildet.“ Der Anschlusstreffer der Ärztekammer in der Nachspielzeit freilich nervt ihn. Denn die Idee des bundesweiten Gesamtvertrages hatte aus Sicht der Kassen einen besonderen Charme. Aktuell sind Leistungen und Honorare das Ergebnis der Verhandlungen zwischen Kasse und der jeweiligen Länderkammer. Daraus ergibt sich ein regional differenzierter Katalog des Gebens und Nehmens.
Derzeit laufen intensive Gespräche zwischen Kassen und Ärztekammer, um genau diesen bundesweit geltenden Gesamtvertrag auszudiskutieren: Die Werkzeuge des Individualvertrages samt Einfrieren der Honorare ab 2025 waren immer als Plan B gedacht – für den Fall, dass sich die Kammer wieder einmal ziert. Dies erklärt die Vehemenz, mit der die Kammervertreter gegen diesen Punkt vorgingen. Für die Kassen bedeutet das Nachgeben der Regierung nicht mehr, als dass aus einer stark verbesserten Verhandlungsposition eine verbesserte geworden ist.
Die letzten Wochen der Finanzausgleichsverhandlungen haben sich in das Gesicht von Johannes Rauch gegraben. Er sieht im Interview müde aus, wenn er sagt, dass „dies die herausforderndsten Gespräche waren“, die er in seiner beruflichen Laufbahn hätte führen müssen. Und er bedient – wie in etlichen Interviews zuvor – die Metapher des Bohrens von meterdicken Brettern. Die Mühen der politischen Niederungen bleiben aber trotz der abgenötigten Kompromisse nicht unbelohnt. Die Regierung konnte die Ärztekammer vom Kernpunkt der Reform fernhalten: die Beschneidung der Vetorechte in Strukturfragen. Laut dem vorliegenden Entwurf wird die Zulassung selbstständiger Ambulatorien nicht mehr in jedem Fall der Zustimmung der Kammer bedürfen. Um ohne Konsens mit der Kammer zu agieren, müssen mindestens drei Ärztestellen in einer Region zweimal erfolglos ausgeschrieben werden.
Aufgeweicht wird das Vetorecht überdies bei der Berechnung jener Stellenpläne, nach denen Kassenordinationen entsprechend ihrer Fachrichtung übers Land verteilt werden. Bislang existierten parallele Strukturen: Zwar erstellen Bundesländer und ÖGK regionale Strukturpläne Gesundheit (RSG), doch die Ärztekammer musste sich in den Verhandlungen mit den Kassen über den konkreten Stellenplan nicht an diese Vorgaben halten, sondern lediglich „Bedacht“ darauf nehmen. Peter Hacker, Wiener Gesundheitsstadtrat und ständiger Herausforderer des Gesundheitsministers, stellt sich in der Frage an die Seite des Voralbergers: „Der Gesundheitsminister hat richtig erkannt, dass in den vergangenen Jahren die (im RSG) gemeinsam ausgearbeiteten Mindestbedarfe in der Praxis noch einmal herunter nivelliert worden sind.“ Da gehe es auch darum, „dass die Gesamtplanung durch andere Pläne nicht konterkariert werden darf.“ Mithilfe der Reformgesetze werden die RSG-Vorgaben verbindlich und die Stellenpläne der Kammer – so sie weitergeführt werden – zu Empfehlungsinstrumenten degradiert. Kommt es innerhalb von sechs Monaten zu keiner Einigung mit der Kammer, kann die Kasse ohne ärztliche Mitsprache selbst entscheiden. Der erhoffte Vorteil: Der Ausbau der ambulanten Kapazitäten erfolgt nicht mehr nach Maßgabe von beruflichen Schutzinteressen, sondern nach evaluierten Bedarfsplänen, erstellt von der GÖG. Ein Sprecher der ÖGK verspricht Wuzel77, dieser könne darauf vertrauen, dass er von seinem Versorgungsgebiet leben könne. Dies sei ebenso im Interesse der Kassen.
Thomas Czypionka sieht in diesen Themen weniger eine Entmachtung der Ärztinnen und Ärzte als vielmehr die Herstellung einer Balance zwischen Kammer und Sozialversicherung. Derzeit habe die Kammer sehr stark die Oberhand. Und er wolle nicht daran denken, was passieren würde, wenn es nicht zu diesem „mittleren Wurf“ gekommen wäre: „Eine Fortführung des Gesundheitssystems würde Österreich unter den aktuellen demografischen Entwicklungen rasch vor organisatorisch schwierige, aber ganz sicher unfinanzierbare Probleme stellen.“
Ineffizient, teuer, nicht steuerbar, intransparent, unausgewogen: Das sind die Attribute, mit denen das heimische Gesundheitssystem von Wissenschaftlern und weniger wohlmeinenden Akteuren spätestens seit der Pandemie bedacht wird. Martin Sprenger ist Arzt, Mitbegründer und Leiter des Postgraduate Public Health-Programms an der MedUni Graz, unverbesserlicher Optimist („Ich fahr mit 90 noch mit dem Radl auf den Schöckl“) und Vorzeigerebell. Er hat keinerlei Scheu, sich mit Institutionen anzulegen – vom Bundeskanzleramt abwärts. Bei den Themen Pandemie-Maßnahmen und deren Aufarbeitung wird er immer noch emotional. Die Nöte im System sind für ihn das Ergebnis von 20 Jahren voller Versäumnisse: „Wir waren immer gut darin, kluge Dinge zu starten und sie dann in den Sand zu setzen.“ Er nennt eCard (2005), ELGA (2013) oder das Postulat der zehn Gesundheitsziele (2012) als Beispiele, „wo wir große Chancen ausgelassen haben, mit den Patienten in Richtung einer wohnortnahen Primärversorgung zu gehen“. Sprenger fordert dringend „die Erlösung aus dem Dualismus von ambulant und stationär“. Und dieser Lösungseffekt gelinge auch der Gesundheitsreform 2024 nicht. Daher sei das Maßnahmenpaket „nicht die große Strukturreform“. Für den grünen Gesundheitsminister findet Sprenger nach dem Kammerkompromiss nicht mehr die milden Worte wie vorher: War Sprenger vorher der Meinung, Rauch hätte die FAG-Verhandlungen „bestmöglich genutzt“, nahm er sein Urteil nach dem Ausgleich mit der Ärztekammer auf „bemüht“ zurück.
Es wird dauern, bis der Ausbau besser honorierter Kassenstellen (+ 100 Verträge) und die Verdreifachung der Primärversorgungszentren ihre Versorgungswirkung entfalten. Schneller spürbar werden die Reformmaßnahmen im Bereich von Digital Health. Angebote wie Videokonsultationen werden rasch in die Regelversorgung übernommen, verspricht der Gesundheitsminister bei der Pressekonferenz nach dem Reform-Ministerrat. In Zukunft soll auch der Erstkontakt des Patienten mit dem Gesundheitssystem digital erfolgen. Österreich verfüge mit ELGA, dem eCard-System und anderen bestehenden E-Health-Anwendungen über eine solide Basis für die automatisierte Unterstützung der Versorgungsprozesse. ELGA und eCard haben dabei besondere Bedeutung. Die lange weit unter ihren Fähigkeiten eingesetzten Systeme sollen endlich ihre Wirkung entfalten. Ab 2026 wird die ELGA-Nutzung für Wahlärzte und Wahlärztinnen verpflichtend sein. Auch der eCard-Einsatz wird den Wahlärzten vorgeschrieben, um endlich einen Überblick über ihre Versorgungsleistung zu erhalten.
Organisatorisch wichtig und noch wenig diskutiert: Die ELGA Gmbh wandert aus der Verantwortung des Dachverbands der Sozialversicherungsträger direkt an das Gesundheitsministerium. Zudem werden die Ärzte ab 2025 zur Diagnose- und Leistungscodierung verpflichtet: Die Aussicht auf neue Großprojekte entfacht bereits den Streit um Einflusssphären. Sozialversicherungen und Bund ereifern sich, über welches System die Diagnosen eingesammelt werden. Das eCard-System der Kassen ist weitverbreitet, extrem belastbar und lange erprobt. Und die Sozialversicherungen können genaue Schlüsse über den Gesundheitszustand Österreichs ziehen. Dies kann das ELGA-System auch. Es hat den Vorteil, dass die Diagnosen über die elektronische Gesundheitsakte von berechtigten GDA (Gesundheitsdiensteanbietern) wie Ärzten eingesehen werden können. Nicht nur Kassen, sondern auch Patienten können auf diese Weise von den Gesundheitsdaten profitieren. Und bevor der Wirbel losgeht: Die Sache mit dem Datenschutz lässt sich lösen.
Tageszeitung Der Standard vom 18. November, Posting auf derStandard.at: Warum die Ärztekammer mit Millionen gegen ihren Machtverlust kämpft
Quelle: ÖKZ, 64. JG, 12/2023, Springer-Verlag.