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Die Diskussion, ob eine Gesellschaft über eine ausreichende Zahl an Ärztinnenbund Ärzten verfügt, wird in den OECD-Ländern sehr unterschiedlich wahrgenommen. Viele Staaten fühlen sich mit einer geringen Ärztedichte hinlänglich versorgt.
Der Arztberuf ist nach wie vor höchst attraktiv. Die etwa achtfache Bewerberquote auf österreichische Medizin-Studienplätze unterstreicht dies eindrucksvoll. Die Ärztedichte in Österreich war noch nie so hoch wie heute und ist weltweit spitze. Österreich belegt in diesem Ranking Platz 1. Trotzdem beherrscht der Topos „Ärztemangel“ die mediale Berichterstattung und die politischen Debatten, wenn es um unser Gesundheitssystem geht.
Ein Blick in die internationalen Statistiken von Gesundheitssystemen zeigt, dass es keine verlässliche Grenzziehung zwischen Mangel und Überschuss an ärztlichem Personal gibt (siehe Tabelle 1). Nachdrücklich sei daran erinnert, dass im Zeitraum von 1980 bis 2005 in Deutschland und Österreich, aber auch in Kanada und Japan, bei markant niedrigerer Ärztedichte als heute von Standesvertretern und Politikern vor der drohenden Ärzteschwemme gewarnt wurde. Ab 2005 hat ohne Veränderung der Rahmenbedingungen speziell in Deutschland und Österreich eine Mangelsituation die Diskussion beherrscht – dies bei stetig zunehmenden Ärztezahlen. Nicht in jedem Land ist das Thema der Ärztedichte mit gleicher Dringlichkeit wahrgenommen worden. Während in den Niederlanden bei relativ geringer Ärztedichte offensichtlich keine Personalknappheit im ärztlichen Bereich zu bestehen scheint, sind in Österreich vakante Kassenstellen oder unterbesetzte Spitalsabteilungen traurige Realität.
Erklärungen für das Paradoxon des Ärztemangels im Land der höchsten Ärztedichte sind rasch bei der Hand. Die demografische Entwicklung einer alternden Bevölkerung bei gleichzeitiger Pensionierung der „Baby-Boomer“-Generation hat Auswirkungen sowohl auf die Angebots- als auch auf die Nachfrageseite des Versorgungssystems. Dass diese Entwicklung lange absehbar war und trotzdem nicht angegangen wurde, steht auf einem anderen Blatt. Mit der COVID-19-Pandemie verschlimmerten sich schlagartig die latenten demografiebedingten Personaldynamiken. Die erschwerten Arbeitsbedingungen und die zunehmenden psychosozialen Verwerfungen sorgten für zunehmende Belastungen auf die ohnehin unter Druck stehenden Gesundheitsdienstleister. Die in den Jahren davor umgesetzten Regulierungen der ärztlichen Arbeitszeiten schränkten die Flexibilität der personellen Ressourcen in dieser Krisensituation ein.
Länder wie die Schweiz, Norwegen, Schweden, Finnland und das Vereinigte Königreich decken ihren Ärztebedarf traditionell in erheblichem Ausmaß durch ausländisches Personal. Im UK sind 32 Prozent der Ärzte Ausländer, in der Schweiz über 38 Prozent. Der NHS rekrutiert vornehmlich in den ehemaligen Kolonialstaaten Indien, Pakistan und Nigeria, während die Schweiz mit guten Gehältern und Arbeitsbedingungen Ärztinnen und Ärzte überwiegend aus Deutschland und Österreich anlockt. Die jährliche Netto-Migration übersteigt in der Schweiz sogar den Output der medizinischen Universitäten. In Österreich wird die Abwanderung von Medizinerinnen und Medizinern ins Ausland gerne als ursächlicher Faktor für den Ärztemangel dargestellt. Dafür scheint auch ein relativ niedriger Anteil von Ärzten mit ausländischem Diplom (2.762 bzw. 6,8 Prozent) und die Zahl von 4.843 Ärzten mit österreichischem Diplom im Ausland zu sprechen (siehe Tabelle 2). Wenn jedoch bedacht wird, dass in letzterer Zahl 1.410 italienische Ärzte mit österreichischem Diplom in der Liste enthalten sind (Südtiroler, welche in Österreich studiert haben) und auch von den 2.145 in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzten mit österreichischem Diplom ein beträchtlicher Teil die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen dürfte („Numerus Clausus-Flüchtlinge“), ergibt sich ein anderes Bild. Damit bildet Österreich zwar viele Ärzte für andere Länder aus, der Migrations-Saldo bei österreichischen Ärzten ist aber als ausgeglichen, wenn nicht sogar als positiv anzunehmen.
Die letzten Jahre legten die Schwachstellen von Gesundheitssystemen deutlicher offen als bisher sichtbar. Die Vernachlässigung des Primärversorgungssektors und die zugelassene Ungleichverteilung der ärztlichen Versorgung – Überversorgung im urbanen, Unterversorgung im ruralen Raum – wirken sich negativ auf die Effizienz eines Gesundheitssystems aus. Von vierzehn analysierten OECD-Ländern stellten neun die Unterversorgung mit Allgemeinmedizinern als vordringlichstes Problem dar.
Meistens geht ein genereller Mangel an Allgemeinmedizinern auch mit einer Konzentration in attraktiven Ballungszentren einher. Ausnahmen davon sind die Schweiz und Frankreich, wo weniger die Gesamtzahl als die Ungleichverteilung als Problem gesehen werden, und die USA sowie das UK, wo der Mangel in allen Regionen gleichermaßen verteilt ist. Japan sieht sich zwar einem generellen Ärztemangel ausgesetzt, was aufgrund der extrem geringen Ärztedichte durchaus verständlich ist, hat aber wegen seines stark egalitären Honorierungssystems keine Probleme mit regional unterschiedlicher Versorgung. In Spanien wiederum schafft das staatliche Gesundheitssystem in allen Landesteilen einen gleichen Level an ärztlicher Versorgung, zwingt jedoch viele Ärzte zur Auswanderung, da im eigenen Land nicht genügend Stellen vorhanden sind.
Der Fokus auf die ärztliche Berufsgruppe alleine bringt nur wenig Rückschlüsse auf die Versorgungssituation in einem komplexen Gesundheitssystem. Die Qualität der medizinischen Versorgung entsteht in der kooperativen Nutzung der Kompetenzen aller beteiligten Berufsgruppen. Die intensivste interprofessionelle Zusammenarbeit besteht traditionell zwischen Ärzten und Pflege, ohne die Relevanz der zahlreichen anderen Gesundheitsdienstleister schmälern zu wollen. Das Ausmaß der Delegation ärztlicher Tätigkeiten an die Pflege, der Grad der Substitution medizinischer Versorgungsaufgaben durch speziell befähigte Pflegekräfte ist in den nationalen Gesundheitssystemen höchst unterschiedlich ausgeprägt.
Dass eine stark arztzentrierte Versorgung wie im deutschsprachigen Raum naturgemäß auch eine hohe Ärztedichte nach sich ziehen muss (solange dies finanzierbar bleibt), ist alleine schon aus politischen Entscheidungszwängen erklärbar. In Norwegen, der Schweiz und in Finnland ergibt die hohe Verfügbarkeit der summierten Arbeitskapazität aus Ärzten und Pflege eine komfortable Personaldecke, mit welcher die Versorgung der Bevölkerung gut organisierbar erscheint. Interessant sind diesbezüglich aber Dänemark, Schweden und vor allem die Niederlande, welche sich sowohl bei der Ärzte- als auch bei der Pflegedichte im mittelmäßigen Level befinden, Versorgungsmängel aber offensichtlich mit wirksamen Kooperationsmodellen der Berufsgruppen zu verhindern wissen. Speziell in den Niederlanden dürfte vieles richtig gemacht werden, da es in diesem Land weder einen Ärztemangel noch eine ungleiche regionale Verteilung der Ärzte zu beklagen gibt.
Schließlich gilt es noch zwei Faktoren zu analysieren, die auf der Verhaltens- und Wahrnehmungsebene eng mit der Ärztemangeldiskussion verknüpft sind. Erstens bestimmen die strukturellen Vorgaben eines Systems und ökonomische Anreize nicht unwesentlich den professionellen Werdegang von Menschen, was keine besonders neue Erkenntnis ist. Die freie Wahl des Lebensmittelpunktes ist ein hohes demokratisches Recht. Ob eine regionale Unterversorgung durch rigorose Planwirtschaft eines staatlichen Gesundheitssystems, wie im UK und Spanien, oder durch positive Anreize, wie in den Niederlanden, verhindert werden soll, ist im politischen Diskurs des jeweiligen Landes auszuverhandeln. Tatsache ist, dass die ungesteuerte Tendenz zur Privatisierung der Medizin in vielen Ländern den öffentlichen Versorgungsbereich personell geschwächt und die Stellenbesetzungen in sozial schwachen Regionen erschwert hat. Die Entwicklung der Wahlarztstellen im niedergelassenen Bereich in Österreich ist dafür ein schlagendes Beispiel: Waren im Jahr 2011 noch etwas mehr Kassenstellen als Wahlarztstellen besetzt, übertreffen 2023 letztere mit 11.343 erstere bereits um 3.043. Keiner Ärztin und keinem Arzt kann ein Vorwurf gemacht werden, wenn sie ihr Zieleinkommen und ihre erstrebten Arbeitsbedingungen in einer Privatpraxis leichter verwirklichen können. Logischerweise werden im Versorgungssystem damit aber regionale und soziale Ungleichheiten für die Bevölkerung verstärkt und ein zumindest punktueller Ärztemangel erzeugt.
Daran anknüpfend sollte zweitens noch erwähnt werden, dass es in reichen Ländern, wie Österreich und Deutschland, auch Bereiche der Über- und Fehlversorgung gibt, welche allerdings kaum in der öffentlichen Wahrnehmung ankommen. Unterversorgung in bestimmten Bereichen findet rasch negative mediale Präsenz, Überversorgung wird zuweilen leichtfertig als qualitätsbeweisende Errungenschaft des Gesundheitssystems interpretiert. Die Angst vor einer Unterversorgung überwiegt bei Weitem die Kritik an einer Vergeudung von Ressourcen. Aus diesem Grund hat das Narrativ des Ärztemangels infolge seiner breiten Öffentlichkeitswirksamkeit auch mühelos das Menetekel der Ärzteschwemme abgelöst, welches letztlich nur eine Berufsgruppe betroffen hat. Der Wahrnehmungs-Bias der öffentlichen Meinung zwingt jedoch politische Entscheidungsträger zu populistischen Maßnahmen, bzw. verhindert notwendige, aber unpopuläre Systemeingriffe.
Korrekterweise sollte über „Versorgungsmangel“ statt über „Ärztemangel“ gesprochen werden, wenn in Ländern mit hoher Ärztedichte Wartezeiten auf dringende Arzttermine zumutbare Toleranzgrenzen überschreiten oder wenn Spitalsambulanzen den Ansturm von Patienten nicht mehr bewältigen können, denn die Anzahl der Ärzte, zumindest in unserem Lande, sollte für die medizinische Versorgung der Bevölkerung mehr als ausreichend sein. Somit wären aber die simplen Lösungsvorschläge des „Mehr von allem“ obsolet und weniger populäre könnten der breiten Öffentlichkeit nicht mehr so einfach vermittelt werden.
Quelle: ÖKZ 2/2024, 65. Jahrgang, Springer-Verlag