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Beschaf­fungs­manage­ment: Zwischen Preis und Wert

27. Februar 2024 | Josef Ruhaltinger
Quality - Price - Costs.
Quality - Price - Costs.

Ein wertorientiertes Beschaffungsmanagement hilft den Patienten und reduziert die Gesamtausgaben einer Klinik. In Österreich steckt der Managementansatz aber noch in den Anfängen: Der Preis ist immer noch das Maß aller Dinge.

Medizinhistoriker und Architekturinteressierte schnalzen mit der Zunge, wenn sie vom Hospital Sant Pau in Barcelona erzählen. Der zwischen 1902 und 1930 erbaute Krankenhauskomplex – nur wenige Gehminuten von der Kathedrale La Sagrada Familia entfernt – gilt mit seinem Pavillon-Konzept und den weitläufigen Gärten als „Stadt in der Stadt“. Die Pracht der roten Fassaden, die Verspieltheit der verschnörkelten Giebel, Türmchen und Kunstschmiedearbeiten machen das Hospital de la Santa Creu i Sant Pau seit 1997 zum UNESCO-Weltkulturerbe. Aus Sicht eines Gesundheitslogistikers erwiesen sich die Pavillon-Konstrukte aber mit der Zeit als unübersichtlich und ressourcenfressend. Das alte Sant Pau war zuletzt mehr Museum als zeitgemäßes Krankenhaus. Ab Milleniumswechsel wurde für Ersatz gesorgt. Gleichsam im Hinterhof der bedeutendsten Anlagen des Modernisme eröffnete 2009 ein modernes Krankenhaus, wie man es auf der ganzen Welt kennt: mehrgeschossige Quader, glatte Fassaden. Flachdach. Fertig. Die neu Klinik ist hässlich, erlaubt aber moderne Medizin. Sant Pau sorgt aber nicht nur in Architekturkreisen für Aufmerksamkeit. 

Das katalanische Management erarbeitete in den letzten Jahren ein Best-Practice-Beispiel, wie durch kluges Beschaffungsmanagement das Patientenwohl gesteigert und die Gesamtkosten des Hauses verringert werden können. 

In dem Pilotprojekt ging es um den Einkauf eines Jahresbedarfes an implantierbaren Kardioverter-Defibrillatoren, sogenannten ICDs. Das Gerät erkennt und behandelt Herzrhythmusstörungen. Die Projektleiter des Sant Pau hatten im Zuge eines EU-finanzierten STOPandGO-Programms mehrere Anforderungen formuliert, die die neuen Implantate erfüllen sollten. Dabei ging es nicht nur um Produkteigenschaften, sondern auch um die Wirkung, die die neuen Geräte auf Patienten, aber auch auf die Klinik haben sollte. Das Pflichtenheft war fordernd: Die in immer größerer Zahl eingesetzten ICDs müssen günstiger, leistungsfähiger und patientenfreundlicher werden. Was nach dem buchstäblichen Wollmilchschwein klingt, stellte sich nach einer eingehenden Marktrecherche – die Einkäufer der Klinik besprechen ihre Wünsche eingehend mit interessierten Medtech-Anbietern – als machbar dar. Die Projektgruppe wandelte eine gerätebasierte in eine servicebasierte Beschaffung. Die Hersteller sollten nicht mehr nur für die Lieferung verantwortlich sein, sondern längerfristig mit einem Servicevertrag ins Boot geholt werden. Zuletzt legte die Ausschreibung fest, dass die Anbieter den technischen Support leisten und die Fernüberwachung der Implantate übernehmen müssen: Ladestatus und Funktionsfähigkeit des Gerätes werden telemetrisch kontrolliert. Der Patient muss seltener in die Klinik. Um die Risiken und Anreize des Geschäftes zwischen Spital und Auftragnehmer zu teilen, wurde die Auszahlung von drei Prozent der Auftragssumme vom Ergebnis abhängig gemacht. Diese Ausschreibungsklausel ist dafür verantwortlich, dass die Ergebnisse der 2016 erfolgten Ausschreibung längerfristig dokumentiert wurden.

Die Klinikbesuche der Implantat-Patienten reduzierten sich nach Vergabe des 10 Millionen-Euro-Loses um 18%. Die Zahl der inadäquaten Schocks, die durch Fehldiagnosen des Steuergerätes ausgelöst wurden, nahm um 29% ab. Die Anzahl der Infektionen, die bei der Implantation verursacht wurden, ging gegen Null. Zudem unterschieden sich die durch das Gerät festgestellten Rhythmusstörungen nur um 0,4% von jenen Fällen, die unmittelbar von Ärzten diagnostiziert wurden. Die neuen Cardioverter erwiesen sich als medizinisch treffsicher.

Der Erfolg des EU-gesponserten Beschaffungsprojektes sprach sich rasch herum: Weitere katalanische Kliniken – in Spanien ist der intramurale Bereich Regionalsache – übernahmen die neue Form des Einkaufmanagements. „Letztendlich mögen die Defibrillatoren teurer gewesen sein, der Gesamtwert der Lösung für das Krankenhaus San Pau in Barcelona ist aber weitaus höher“, schreibt der deutsche Unternehmensberater und Beschaffungsexperte Christoph Luz in seinem Blog. „Bessere Patientenergebnisse, geringere Gesamtkosten für die Versorgung und die Entlastung des klinischen Personals“ würden die höheren Anschaffungskosten deutlich rechtfertigen.

 

Der Preis macht immer noch die Musik

Der Ansatz der wertorientierten Beschaffung oder – auf Businessdeutsch – „Value Based Procurement“ (VBP) erlaubt, mehrere strategische Managementziele durch kluge Ausschreibungen zu verfolgen. Vorgaben wie Patientenwohl, Personalschonung, Langlebigkeit, Versorgungssicherheit oder Nachhaltigkeit werden dabei neben das Gebot der Preiswürdigkeit gestellt. Entscheidend ist, wie die Auswirkung einer Beschaffung bemessen wird: In einer wertorientierten Beschaffung werden nicht nur die unmittelbaren Anschaffungs- und Servicekosten bewertet, sondern auch die damit verbundenen Folgewirkungen von Pflegeaufwand bis hin zu Entsorgungskosten. Bei der wertorientierten Beschaffung wird das angestaubte Prinzip des Bestbieters mit neuen Inhalten befüllt.

Die Realität sieht für die Einkaufsmanager der heimischen Krankenhäuser und Gesundheitsverbünde aber deutlich banaler aus. Die Faustregel des Geschäftes ist so simpel wie beständig: 60 Prozent der Entscheidung werden vom Preis definiert, 40 Prozent machen Argumente wie Qualität, Lieferfähigkeit oder CO2-Footprint aus. „Am Ende des Tages zählt die Wirtschaftlichkeit“, beschreibt Manfred Kurz seine Vorgaben. Er ist Leiter des Beschaffungs- und Investitionsmanagements der Oberösterreichischen Gesundheitsholding, einem der großen Klinikbetreiber des Landes (Kepler Universitätsklinikum plus fünf Regionalkliniken an acht Standorten). Zwar differieren die Ausschreibungen von Artikel zu Artikel, „die Maßstäbe bleiben aber im Großen und Ganzen dieselben“, so Kurz.

Bei den Kollegen der Tirol Kliniken ist die Sachlage nicht anders. Stephan Kostner leitet dort den Zentraleinkauf: „Themen wie Regionalität und kurze Lieferwege können wir bei Warengruppen wie Lebensmitteln gut berücksichtigen. Aber ich kann keine Masken zu einem Aufschlag von 50 Prozent bestellen, nur weil sie aus Europa kommen“, so Kostner. Beschaffung sei oft eine Frage des „Hausverstands. Manchmal kommt man drauf, dass man den Artikel gar nicht braucht.“ So hätten sich Papier­abdeckungen für medizinische Liegen nach Rücksprache mit Ärzteschaft und Hygienikern als „überflüssig erwiesen. Die Oberflächen müssen so und so desinfiziert werden.“

Wilfried von Eiff verzieht im Zoom-Call angesichts der stabilen Ausschreibungsusancen keine Miene: Ihn überrascht die Haltung der Praktiker nicht. „Die wenigsten Kliniken können mit dem Prinzip des wertebasierten Einkaufs etwas anfangen“, weiß der Münsteraner Gesundheitsökonom. Von Eiff ist neben vielen Funktionen Präsident des Beschaffungskongresses deutscher Krankenhäuser. Er hat – gemeinsam mit anderen – im Vorjahr fast 800 Krankenhausmanager und 150 Entscheider aus der Medizinindustrie befragt, wie sie ihr Einkaufsmanagement „im Spagat zwischen Resilienz und Wirtschaftlichkeit“ gestalten. Zwar sickere das Thema des wertebasierten Einkaufs „langsam in den Kliniken ein. Umgesetzt haben es aber die wenigsten.“ Der Kostendruck präge das Entscheidungsverhalten. Die Beschaffung von Medizinprodukten mit „ausreichender“ Qualität zu „vergleichsweise niedrigen Preisen“ steht laut Studie eindeutig im Vordergrund. Das wichtigste Entscheidungskriterium im Beschaffungsprozess ist eine Kombination aus Preis, Anschaffungskosten und Finanzkonditionen. Danach kommen Kriterien wie Produktfunktionalität und Handhabungsfreundlichkeit. Effekte, die auf das Patienten-Outcome, Patienten-Risiko, auf Rekonvaleszenzzeit und Verweildauer abstellen, haben nur ein Drittel des Gewichts eines günstigen Preises. Grüne Argumente wie Nachhaltigkeit, CO2-Bilanz oder Transportaufkommen finden sich erst ganz am Ende der abgefragten Zuschlagskriterien.

 

Wichtige Vorrecherchen

„Die Marktanalysen für Ausschreibungen werden immer wichtiger“, betont Herwig Wetzlinger. Für den Vorstand des Wiener Gesundheitsverbundes kommt dem Vorfeld eines Ausschreibungsverfahrens wachsende Bedeutung zu: „Wir müssen viel genauer wissen, was der Markt zu bieten hat.“ Dabei gehe es nicht nur um Produkteigenschaften, sondern auch um dazugehörige Dienstleistungen. Durch eingehende Marktkonsultationen erhalten Beschaffer wichtige Informationen von den Anbietern, wie ein Projekt Ergebnisse verbessern, Gesamtkosten reduzieren, klinisches Personal unterstützen und Forderungen wie Nachhaltigkeit und Versorgungssicherheit stützen kann.

Eine Ausschreibung am Erasmus Medical Center in Rotterdam unterstreicht, wie präzise Ausschreibungsrecherche zum Tragen kommt. Das Erasmus ist die größte der acht Universitätskliniken in den Niederlanden. Ab 2009 wurde das Krankenhaus sukzessive einer Vollrenovierung unterzogen. Unter anderem wurde die Anschaffung neuer Inneneinrichtung und neuer Patientenbetten ins Auge gefasst. „Anstatt die Ausschreibung auf den Kaufpreis und die Produkteigenschaften zu stützen, suchte das Zentrum nach einer umfassenden Lösung“, schreibt die Boston Consulting Group in einer Studie (Titel: How Procurement Unlocks Value-Based Health Care, 2020). Die neuen Betten sollen helfen, Arbeitsgänge einzusparen und Herausforderungen wie den Pflegekräftemangel zu lindern. Die Vorrecherchen brachten schnell wichtige Planungsfehler ans Licht: Zum Beispiel enthielt das Design der neuen Einrichtung Türen ohne Fenster. Pflegekräfte hätten jede Tür öffnen müssen, um sicherzustellen, dass die Patienten dort waren, wo sie sein sollten. Die Beschaffer informierten sich auch über die Möglichkeiten von digital vernetzten Krankenhausbetten: Die smarten Liegen alarmieren die Stationsschwestern, wenn sich Patienten, denen strenge Bettruhe verordnet ist, auf Wanderschaft begeben. Digitalisierte Betten messen automatisch das Patientengewicht, reduzieren Druckgeschwüre und senken das Infektionsrisiko. Für das Pflegepersonal bedeutet dies weniger und schnellere Arbeitsschritte. Auf Basis der definierten und wertbasierten Vergabekriterien vergab das Erasmus einen umfassenden Servicevertrag über 15 Jahre. Der Kontrakt umfasste mehr als 800 Krankenhausbetten, Matratzen, eine robotergestützte Bettenwaschlösung, integrierte digitale Überwachungsgeräte und die Verpflichtung der medizinischen Gerätehersteller, zur Verbesserung von Prozessen und Ergebnissen weiterhin beizutragen. Das Erasmus erwartet, dass die Aufenthaltsdauer für einige Patientengruppen dank verbesserter Gewichts- und Flüssigkeitsüberwachung um einen Tag reduziert werden kann. 

Das Management geht laut BCG davon aus, dass die Klinik die Arbeitskosten im Pflegebereich um mehr als 500.000 Euro pro Jahr reduzieren konnte.

 

Was war die Leistung?

„Jeder Klinikmanager muss belegen können, ob eine wertorientierte Ausschreibung hält, was er versprochen hat“, weiß Wilfried von Eiff. Allerdings ist dies nicht immer einfach. In mehr als der Hälfte der befragte Häuser ist die klassische Kostenvergleichsrechnung das Instrument der Wahl, wenn es um die Bewertung von Beschaffungsalternativen geht. Für von Eiff ist dies rein preislich ausgerichtete Evaluierung nur konsequent, da „in den meisten Krankenhäusern unverändert ein preisorientiertes Beschaffungsmanagement vorherrscht“. Ein diffuses Bild ergibt sich, wenn es um die Anwendung von „Lebenszykluskosten“ und „Prozesskosten“ zur Bewertung von Produktalternativen geht. „In den Fragebögen wurde von diesen integrierten Ansätzen nur geschwärmt. Aus den begleitenden persönlichen Interviews erhielten wir aber ein völlig anderes Bild.“ Die beiden Kostenansätze wurden selten herangezogen, da die Informationsbeschaffung ohne Vorbereitung sehr schwierig ist. „Und es gab bei den Gesprächspartnern immer wieder methodische Wissenslücken“, erzählt von Eiff. Im Fall des Instruments „Opportunitätskosten-Rechnung“ bedeutete dies, dass bei der Bewertung von Produktalternativen Aspekte wie „Reduktion von Prozess-Zeiten“, „Kostenreduktion durch Vermeidung von Überstunden“ zum Beispiel durch Verkürzung von OP-Belegungszeiten oder die Möglichkeit zur „Generierung von Zusatzerlösen“ keine Berücksichtigung finden. Beispiel dafür wäre der Umsatz durch die Nutzung der eingesparten OP-Belegungszeit für einen zusätzlichen Eingriff.

Dennoch ist von Eiff überzeugt, dass sich die Beschaffung in mitteleuropäischen Krankenhäusern und Verbünden „sehr schnell sehr verändern wird“. Als Schnittstelle zwischen Ökonomie und Medizin stehen Beschaffungsmanager im Zentrum der Veränderungen. Für sie bestehen die großen Herausforderungen darin, „Lieferketten resilienter zu gestalten und CO2-Emissionen sowie Ressourcenverbrauch zu reduzieren – und dies alles unter Kostendruck“. Um diese Vorgaben unter einen Hut zu bringen, ist die Methode der wertorientierten Beschaffung laut von Eiff „ohne Alternative“.  

Quelle: ÖKZ 2/2024, 65. Jahrgang, Springer-Verlag

Vier Tipps für VBP-Einführung
  1. Gründung einer Projektgruppe: Um die wertorientierte Beschaffung zu etablieren, sollte ein multidisziplinäres VBP-Team von zwei bis vier Personen gegründet werden. 
  2. Pilotprojekte: Identifizierung von zwei bis drei Pilotprojekten, bei denen der potenzielle Wert eines VBP-Modells auf der Hand liegt. Es wird genau definiert, was die Beschaffung bewirken soll. 
  3. Frühzeitige Marktkonsultation: Das VBP-Team sucht Kontakt zu den Herstellern oder unabhängigen Dienstleistern, die den Markt kennen und im Idealfall bereits auf Daten zugreifen können. 
  4. Strukturen für Evaluierung schaffen: Definition von Prozessen und Aufbau nötiger IT-Infrastruktur, die es Kliniken erlaubt, patientenrelevante Ergebnisse und die Gesamtkosten der Versorgung zu messen und nachzuweisen.