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Zwei-Klassen-Medizin: Kasse oder Karte

6. Januar 2025 | Josef Ruhaltinger
Schwarz und Weiss: Schachfiguren und -brett.
Schwarz und Weiss: Schachfiguren und -brett.

Ausufernde Wartezeiten liefern den Anschub für eine Zwei-Klassen-Medizin. Sehr viele neue Ärztinnen und Ärzte sollen das Vertrauen in das solidarische Gesundheitssystem bei den Beitragszahlern reparieren. Die ÖGK will dafür sogar ihre Kassenverträge flexibel machen.

Die Unterscheidung zwischen reich und arm greift viel zu kurz, wenn es um eine Analyse des heimischen Gesundheitssystems geht. Dafür braucht es zusätzlich den feinen Jammer einer beliebigen Figur aus der „Tante Jolesch“ und die feste ostösterreichische Überzeugung, dass „a bisserl was immer geht“. Österreichisches Einfühlungsvermögen eben, wie Robert Mischak überzeugt ist. Denn der Grazer FH-Professor, Leiter des Studiengangs „eHealth“ und Departmentvorsitzender für Angewandte Informatik am FH Joanneum Graz, entdeckt in der heimischen Gesundheitsversorgung gar ein „Vier-Klassen-System“ – ganz ohne Ironie: Die erste Klasse beschreibe den herkömmlichen eCard-Patienten, die zweite Klasse gehöre dem Sonderklassen- und selbstzahlenden Wahlarztgänger, die dritte Klasse setze sich aus Insidern der verschiedenen Gesundheitsdienste zusammen und die vierte und letzte Klasse werde durch jene definiert, „die jemanden kennen“. Mischak garniert die Erzählung dann auch mit einem Erlebnis, als er einen losen Zahn binnen eines Tages wieder fest sein Eigen nennen konnte – „weil ich zu einem Wahlarzt gegangen bin“.

Schneller, geduldiger, empathischer – die 11.000 Wahlärzte Österreichs sind zum Symbol einer Entwicklung geworden, die spätestens seit der Pandemie den Niedergang des Beitragszahlerkonzepts prophezeit. Die Leistungen des solidarischen Gesundheitssystems entsprechen nicht mehr den Erwartungen seiner Bürger. Kritiker mit weniger feinfühliger Analyse als Robert Mischak zählen nicht bis vier, sondern begnügen sich mit dem Vorwurf des Zwei-Klassen-Systems: Wer der Fünf-Minuten-Medizin des Kassenarztes und den überlangen Wartezeiten von drei Monaten und mehr bei bestimmten Fachrichtungen entgehen will, sucht sich einen Wahlarzt. Gegen einen Obolus von 150 bis 240 Euro für eine Erstordination gibt es binnen einer Woche einen Termin, man darf mindestens 30 Minuten mit dem behandelnden Arzt oder der Ärztin verbringen und –, wenn Herr oder Frau Doktor ihr Geschäft ernsthaft betreiben –, erhält eine Handynummer, die man bei auftretenden Beschwerden oder Komplikationen laut Arzt jederzeit benutzen darf.

 

Strenge Richter

Jeder sollte eine (meist) Hausärztin haben, die freundlich und entspannt plaudert, obwohl nur 30 Euro auf ihr Konto wandern werden. Es gibt viele. Dennoch sind es die Erfahrungen mit der hastigen Kassenmedizin, die die Wahrnehmung des heimischen Gesundheitssystems bestimmen. Arzt und Ärztin verhalten sich, als ob sie keine Zeit hätten und der Patient verlässt die Ordination mit diffusem Gefühl. Thomas Czypionka verzieht leicht die Miene, wenn man ihn nach der Zwei-Klassen-Medizin fragt: „Was ist das?“ Der Gesundheitsökonom des IHS sieht die Maßstäbe verschoben: „Es gibt Unterschiede in der Versorgung und in den Chancen auf Gesundheit.“ Absolute Gleichheit in der Patientenversorgung finde er in keinem System. Aber: „In Österreich sind die Unterschiede noch relativ gering ausgeprägt.“ Eine aktuelle Studie in Zusammenarbeit mit der WHO bestätigt: Österreich steht im europäischen Vergleich gut da, aber nicht an der Spitze. Die gleiche Untersuchung habe aber auch gezeigt: „Wir verzeichnen eine Verschlechterung der Situation.“ Der Anteil der Privatausgaben am gesamten Gesundheitskuchen steigt leicht von 21,8 Prozent im Pandemiejahr 2021 auf 22,9 Prozent im Jahr 2023. Und es wäre nur die halbe Geschichte erzählt, wenn nicht darauf hingewiesen würde, dass 2010 oder 2015 die privaten Ausgaben für Medikamente, Zusatzversicherungen oder Wahlärzte mehr als 25 Prozent des gesamten Gesundheitskuchens ausmachten. Zahlen lügen nicht. Aber sie können verwirren.

Andreas Huss ist bekannt dafür, dass er für das Kassensystem durchs Feuer geht. Das muss er schon von Berufs wegen: Als Vorsitzender des Dachverbands der Sozialversicherung und ÖGK-Obmann ist er Inkarnation und erster Verfechter des solidarischen Gedankens. Als solcher steht für ihn außer Streit: Die Qualität des österreichischen Gesundheitssystems „im Akutsystem, im Spitalsystem, aber auch in der Niederlassung ist nach wie vor im internationalen Vergleich eine sehr, sehr gute“. Aber selbst er kommt nicht umhin zuzugeben, dass es mit den „Wartezeiten bislang schwierig wird“. Es sei in manchen Regionen und in manchen Fächern nicht möglich, „einen Arzttermin in vertretbarer Zeit zu erhalten“. Gleiches habe sich bei den elektiven Eingriffen in den Kliniken entwickelt. Die Gründe sind für ihn eindeutig: „Wir haben ein Personalproblem.“ Ein Mangel an Ärzten und – schwerwiegender – bei den Pflegenden lässt in Kliniken und Ordinationen teure Infrastruktur brach liegen. Dass der Vorwurf der Zwei-Klassen-Medizin am lautesten aus dem ambulanten Bereich zu vernehmen ist, hat für Huss vor allem mit dem gestiegenen Zuspruch zu tun. Tatsächlich sind die Leistungen des stationären Bereichs in den letzten zehn Jahren um ein Viertel zurückgegangen. Die Entwicklung ist erwünscht: Sie entlastet, Stationen, die Bettenzahl reduziert sich von selbst. Auch die Besuche in den Spitalsambulanzen haben sich in den letzten Jahren leicht verringert. „Was explodiert ist, ist die Inanspruchnahme der niedergelassenen Versorgung“, erklärt der ÖGK-Obmann.

Die stark wachsende Bevölkerung mit immer höherem Pensionistenanteil sowie eine zunehmende Versorgungserwartung lassen die Wartezimmer von Österreichs Ordinationen überquellen. Dem steht zwar eine wachsende Zahl an Ärztinnen und Ärzten gegenüber, aber ein stagnierender Stellenplan mit einer nur leicht zunehmenden Versorgungsleistung. Das System vermag den Ansturm nicht zu bewältigen. Die Anzahl der Kassenstellen hat in den letzten Jahren leicht abgenommen. Da aber die mittlerweile 75 PVE mit mindestens drei Ärztinnen und Ärzten statistisch mit nur je einem Kassenvertrag zu Buche schlagen, ergeben sich frische Kapazitäten –, die aber nicht ausreichen, um den gesamten Bevölkerungszuwachs aufzufangen. Daher will Huss bis 2030 österreichweit 300 Primärversorgungszentren am Start sehen sowie 800 zusätzliche Kassenärzte ins öffentliche System holen. Die von ihm geschätzte eine Milliarde Euro, die diese Expansion plus ein noch zu verhandelnder bundeseinheitlicher Leistungskatalog kosten werden, möge der Staat durch Anhebung der Sozialversicherungsbeiträge der Pensionisten mobilisieren, so Huss.

 

Flexible Verträge für alle

Die Skepsis ist unüberhörbar, die aus dem fernen Tirol durch das Telefon schwappt. Edgar Wutscher hat seine Zweifel, ob sich der gegenwärtige Ärztemangel in nichts auflöst. „Es sind noch nicht einmal die 100 Stellen besetzt, die im Vorjahr ausgelobt wurden“, erinnert sich der Kurienobmann der niedergelassenen Ärzte und Vizepräsident der Ärztekammer. Für den emeritierten Söldener Gemeindearzt ist es wenig überraschend, dass das Angebot eines Kassenvertrages für die jungen Kolleginnen und Kollegen nur mäßig reizvoll ist. Zu wenig Flexibilität, zu geringes Honorar und zu viel Bürokratie legt Wutscher die Dauerkritikpunkte erneut auf den Tisch. „Wir brauchen anpassungsfähige Formen der Zusammenarbeit.“ Die Mehrheit der jungen Ärzteschaft sei weiblich. „Das verlangt im niedergelassenen Bereich nach Kooperationsformen, die familientauglich sind“, so der Kurienobmann.

Tatsächlich zeigen sich ÖGK-Vertreter trotz der Personalnot immer wieder erstaunlich hartleibig, wie einzelne Fälle zeigen. Eine junge Salzburger Augenärztin wollte aus der Klinik in den niedergelassenen Bereich wechseln. Um das Startrisiko klein zu halten, fragte sie bei der ÖGK um einen Kassenvertrag mit Teilzeitklausel an. Sie wollte den halben Klinikjob für eine gewisse Zeit zur wirtschaftlichen Absicherung behalten. Die Kasse sagte ab. Daraufhin eröffnete die Ophthalmologin eine Wahlarztpraxis, die sofort gut lief. Als nach einem halben Jahr die ÖGK anklopfte, um einen Vertrag nach den Bedingungen der Ärztin anzubieten, holte sie sich eine Abfuhr. Hauptargument: Sie hasse die 5-Minuten-Medizin.

Für Martin Gruber sind die Beweggründe der Kollegin nachvollziehbar. Der orthopädische Chirurg und Sportmediziner betreibt ein ganzes medizinisches Zentrum mit 500 m2 Ordinationsfläche. Seine Spitalsanstellung als Oberarzt im LKH Krems hatte er 2014 gekündigt. Ein Kassenvertrag war für Gruber nie eine Option: „Das öffentliche Honorarsystem funktioniert wirtschaftlich nur in der Masse.“ Die Patientenkommunikation vor und nach einer Knie- oder Hüftoperation sei viel zu langwierig, um mit 15 Euro als Anamnesegespräch abgegolten zu werden: „Da fahre ich mit meiner Ordination wirtschaftlich gegen die Wand.“

Aus Sicht der Kassen ist der Vorwurf der Massenabfertigung leicht zu ertragen. Ihnen ist es lieber, ein Arzt behandelt in der Stunde fünf Patienten als zwei. Die Vertreter des solidarischen Versicherungssystems denken in Versorgungsleistungen: Wie viele Beitragszahler können betreut werden? Versorgungsqualität wie sie Ärztinnen und Ärzte gerne verstehen, ist den Kassen unter dem Blickwinkel von Gesundheit für alle nicht egal, aber zweitrangig. Geld ist dabei wichtig, kein niedergelassener Arzt mit Kassenvertrag geht in Österreich am Bettelstab. Andreas Huss hat das IHS erheben lassen, was ein Allgemeinmediziner in einer Einzelpaxis durchschnittlich erwirtschaftet: Laut Auftragsstudie bleiben nach Kosten und Abgaben, aber vor Steuern 220.000 Euro übrig. Das komme hin, meint ein befragter Steuerberater mit Einblick in hunderte Einkommenssteuererklärungen von Medizinern. Seine Benchmark-Berechnungen sprechen bei einer Allgemeinmediziner-Praxis im Mittel von 500.000 Euro Umsatz und einem Kostensatz zwischen 50 und 60 Prozent – genug, um ein gediegenes mittelständisches Familienleben zu führen.

Abwandernde Vertragsärzte und zunehmende Personalnöte setzen die ÖGK unter Druck. Wenn Kurien-Obmann Wutscher von unflexiblen Verträgen spricht, dann antwortet Andreas Huss mit einer wahren Charmeoffensive: „Wir suchen mit den Bundesländern das Gespräch, damit sie ihren Klinikärzten gestatten, in Teilzeit in einer Kassenpraxis mitzuarbeiten.“ Die Spitalsärzte haben dabei nach den Worten des ÖGK-Obmanns die Wahl, einen 25-Stunden-Kassenvertrag anzunehmen oder sich in einer Kassenpraxis anstellen zu lassen. Selbst Jobsharingpraxen, Gruppen- bzw. Teilgruppenpraxen kommen infrage. „Mir ist lieber, ein Arzt arbeitet ein paar Stunden in einer Kassenpraxis, als er eröffnet eine Wahlarztordination und geht für das öffentliche Niedergelassenen-System ganz verloren.“

 

Informelle Zahlungen

Die „Zwei-Klassen-Wartezeiten“ (O-Ton Andreas Huss) ufern auch in den stationären Bereich aus. Bei den aufschiebbaren OPs bauen sich seit der Pandemie sukzessive Wartezeiten auf. Fehlendes Personal lasse viele OP-Kapazitäten ungenutzt, klagen Klinikmanager. Ein Rundblick auf die im Internet veröffentlichten Fristen fordert von den betroffenen Patienten echten Langmut: Die Orthopädie-Spezialisten in Speising hatten mit Stichtag 20. August nahezu 2.400 Patienten und Patientinnen auf der Warteliste für eine Knie-Operation, auf die sie durchschnittlich 28 Wochen warten müssen. Im Burgenland sind in der Klinik Güssing 368 Patienten vorgemerkt, die nahezu elf Monate auf ihre Knie-OP hoffen. In den niederösterreichischen LK wie Scheibbs oder Neunkirchen dauert es zur Knie-OP fast ein Jahr.

Das Problem der OP-Wartezeiten provoziert Ungleichheiten. Thomas Czypionka und Kollegen untersuchten, wie gleichberechtigt der Zugang zur knappen Ressource „Operationsteam“ in Österreichs Kliniken gestaltet wird. Das Studienergebnis beschreibt nur das Offensichtliche: Patienten mit geringeren wirtschaftlichen Mitteln und gesetzlicher Krankenversicherung warten länger auf ihren Termin als Patienten mit einer (zusätzlichen) privaten Krankenversicherung. Explosiver ist ein weiteres Studienergebnis: „Österreich ist in der EU bei der Verbreitung informeller Zahlungen im Gesundheitssystem führend“, schreiben die Studienautoren.

Unter informellen Zahlungen verstehen sie nichts anderes als eine bevorzugte Behandlung gegen Cash. Hintergrund: Eine Umfrage aus dem Jahr 2019 zum Thema Korruption im Gesundheitswesen zeigt, dass in der Europäischen Union durchschnittlich 3,8 Prozent der Patienten mit dem Thema der informellen Zahlungen an Ärzte oder andere einflussreiche Dienstleister in Berührung gekommen sind. In Schweden machten genau 0,0 Prozent der Patienten diese Erfahrung. In Österreich gaben 11 Prozent – mehr als jeder zehnte – an, ein Angebot zur Verkürzung ihrer Wartezeit bekommen zu haben. Ein Besuch in der Praxis des operierenden Arztes vor der Operation oder eine Zahlung direkt an den operierenden Arzt würden alle Hindernisse beseitigen. Dies wäre dann die Fünf-Klassen-Medizin.
 

Quellen und Links:

ÖKZ 04/2024, 65. Jahrgang, Springer-Verlag.

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