CompuGroup Medical
Synchronizing Healthcare

Erfahren Sie alles über die Vision, Mission sowie die Menschen, die die CompuGroup Medical weltweit prägen. 

Investor Relations
Eine Person tippt mit dem Finger auf ein Tablet-PC mit einer Investor-Relations-Präsentation
Karriere
Eine junge Frau telefoniert mit ihrem Smartphone, während sie einen Tablet-PC hält
CGM Global
Mehrere CGM-Flaggen

Alles digital?

1. Juli 2021 | Michaela Endemann
Symbolbild für Digitalisierung
Symbolbild für Digitalisierung

Die Digitalisierung der Medizin schreitet mit riesigen Schritten voran. Die Corona-Pandemie hat das Ihre dazu beigetragen, dass uns der Arzt im Wohnzimmer nicht mehr fremd ist. Besteht die Zukunft des Gesundheitswesens tatsächlich aus Apps und Telemedizin? Und halten die Versprechen über Kostenminimierung bei gleichzeitig beschleunigter Forschung und besserer Versorgung? 

Über die Chancen digitaler Technologien im Gesundheitswesen hat die ÖKZ mit Annette Mönninghoff, Projektleiterin am Institut für Customer Insight an der Universität St. Gallen, und Elgar Fleisch, Professor für Informations- und Technologiemanagement an der ETH Zürich und der Universität St. Gallen, gesprochen. Gemeinsam mit anderen Autoren haben die beiden kürzlich das Buch Die digitale Pille herausgebracht.

 

Wie kann die Digitalisierung in der Medizin helfen? Beispielsweise in der Versorgung chronisch kranker Menschen? 

Annette Mönninghoff: 

Unser heutiges Gesundheitssystem ist zu stark daran ausgerichtet, Krankheiten zu heilen, und kümmert sich zu wenig darum, Gesundheit zu bewahren. Digitale Technologien können helfen, unser Gesundheitssystem mehr auf Prävention auszurichten. Durch digitale Tracker können Patienten Lifestyle- und Vitalwerte selbst kontinuierlich aufzeichnen. Das schafft zuerst mal ein Bewusstsein für das eigene Verhalten, was ein wichtiger erster Schritt ist. In einem zweiten Schritt hat sich zum Beispiel gezeigt, dass Ziele und Anreize Menschen dabei helfen können, ihr Verhalten zu verändern. Im Bereich der Bewegungsförderung gibt es gute Ergebnisse in Studien mit Senioren oder Übergewichtigen. 

Elgar Fleisch: 

Es ist heute belegt, dass das Risiko für Diabetes, kardiovaskuläre Krankheiten und selbst Krebs etwa zur Hälfte durch einen gesunden Lebensstil vermindert oder verzögert werden kann. Da diese Krankheiten viel Leid und mehr als 80 Prozent aller Gesundheitskosten verursachen, sollten wir dringend über Prävention sprechen. Prävention würde sich nicht nur positiv auf die Gesundheit von Millionen Menschen auswirken, sie würde auch das Kostenproblem in unseren Gesundheitssystemen zu einem großen Teil lösen. 

 

Sie schreiben in Ihrem Buch, man sollte von digitalen Therapien sprechen anstatt von Apps. Die können neuerdings auch per Rezept verschrieben werden. Halten sie auch das, was sie versprechen? 

Mönninghoff: 

Wir haben gerade eine Metastudie zu BewegungsApps publiziert, in der wir die Ergebnisse von 117 verschiedenen Studien konsolidiert haben. Unsere Metastudie zeigt, dass diese digitalen Therapien zu mehr Bewegung motivieren können. Allerdings hält der Effekt bisher nicht sehr lange an. Aber für ein, zwei Jahre zeigen diese digitalen Bewegungstherapien positive Erfolge. 

Fleisch: 

Ziel sollte sein, dass man digitale Therapien baut, die ebenso wie ein Medikament durch Zulassungs-Studien gehen und hierbei ihre Wirksamkeit nachweisen müssen. In meinem Forschungsteam untersuchen wir zum Beispiel gerade, wie so ein digitaler Coach aufgebaut sein muss, damit er Patienten mit Asthma oder Bluthochdruck wirksam unterstützt. 

 

Werden digitale Therapien den Arzt ersetzen? 

Mönninghoff: 

Nein, sicher nicht. Ärzte werden weiterhin eine zentrale Rolle spielen. Wir sehen vielmehr, dass digitale Therapien den Handlungsspielraum von Ärzten erweitern. Eine hybride Therapie sozusagen. Derzeit haben wir ja eine Blitzlichtmedizin. Der Patient kommt zum Arzt, dann werden Vitalwerte einmalig gemessen, zum Beispiel der Blutdruck. Was zwischen den Arztbesuchen passiert, liegt im Dunkeln. Wir sehen hier das meiste Potenzial in digitalen Therapien, die eine kontinuierliche Betreuung von chronisch kranken Patienten ermöglichen, als Ergänzung zum betreuenden Arzt.

Annette Mönninghoff, <br>Projektleiterin am Institut "Customer Insight", <br>Universität St. Gallen
Annette Mönninghoff, Universität St. Gallen
Datenschutz wird mehrheitlich von gesunden Menschen gefordert.

Annette Mönninghoff, 
Projektleiterin am Institut "Customer Insight", 
Universität St. Gallen

Die Frage ist: Wer zahlt‘s? In Großbritannien beispielsweise gibt es die NHS Apps Library, die getestete Apps listet und auch die Entwicklung solcher Anwendungen ermöglicht. 

Fleisch: 

Das ist weltweit noch nicht wirklich gelöst. In den USA ist die FDA daran, in einem Pilotprogramm zu evaluieren, wie man solche digitalen Therapien zulassen kann. Deutschland zieht nach. Das DiGA (Digitale Gesundheitsanwendungen)-Konzept ist so etwas wie ein digitaler Sandkasten, in dem digitale Anwendungen ihre Effektivität unter Beweis stellen können. Nach einem Antrag werden diese Apps erst einmal ein Jahr lang von der Krankenkasse gezahlt. Innerhalb dieser Zeit müssen sich die Therapien bewähren und beweisen. Schaffen sie den Sprung, werden sie als erstattungsfähige Therapie langfristig zugelassen.

Mönninghoff: 

Ein Beispiel ist eine digitale Musiktherapie gegen Tinnitus, die die Technikerkrankenkasse in Deutschland zugelassen hat. Sie wird von Hals-Nasen-Ohren-Ärzten verordnet. Die App hat gezeigt, dass sie gute Ergebnisse erzielen kann. Auch hier haben wir wieder das Zusammenspiel von Ärzten, Patienten und der digitalen Therapie. Vier Anwendungen sind inzwischen dauerhaft als DiGA zugelassen worden. Diese Lösungen sind erstattungsfähig von der Krankenkasse und können von Ärzten verschrieben werden. Die Anwendungsbereiche sind vielfältig: Es gibt DiGas für Multiple Sklerose, aber auch zur Behandlung von Depressionen. Rund 50 weitere Apps sind in der einjährigen Erprobungsphase. 

 

Daten sind wertvoll, aber werden sie von Patienten gerne geteilt und zu wissenschaftlichen Zwecken genutzt?

Fleisch: 

Die Medizin ist großteils eine empirische Wissenschaft – auf Deutsch: eine Erfahrungswissenschaft. Sie leitet das Wissen aus Daten von Experimenten und Beobachtungen ab. Ohne dieses Erfahrungswissen und die zugrundeliegenden Daten ist kein medizinischer Fortschritt denkbar. Nun haben wir die Möglichkeit, diese Daten digital zu sammeln. Wo ist der Unterschied? Wenn richtig gemacht, dann kostet das digitale Sammeln und Speichern dieser Daten praktisch nichts mehr. Das bedeutet, dass wir erstmals sehr feingranulare Daten in riesigen Mengen sammeln können. Sie sind für die Medizin von unschätzbarem Wert. Und eine zwingend notwendige Grundlage für eine viel bessere, individuellere, transparentere und gleichzeitig leistbare Medizin. In einer digitaleren Welt helfen uns nicht mehr nur die Daten aus den künstlich angelegten klinischen Studien, sondern auch die Daten, die bei jedem Arztbesuch entstehen, bei jeder Selbstvermessung, jedem DIY-Labortest – jede anonymisierte Krankengeschichte. Also die gewaltige Menge an sogenannten Realwelt-Daten, die wir heute verschwenden, weil wir sie nicht nutzen. 

Professor für Informations- und Technologiemanagement,<br>ETH Zürich & Universität St. Gallen
Wir haben derzeit eine Blitzlichtmedizin.

Professor für Informations- und Technologiemanagement,
ETH Zürich & Universität St. Gallen

Mönninghoff: 

Im deutschsprachigen Raum sind Datenschutzbedenken stark ausgeprägt. Es ist daher wichtig, dass der Nutzen für den Patienten besser kommuniziert wird. Wenn Patienten verstehen, welchen wichtigen Beitrag ihre Daten für die Erforschung von Krankheiten haben können, dann steigt auch die Bereitschaft, sich solidarisch zu zeigen. In unserem Buch Die Digitale Pille sprechen wir daher davon, dass das anonymisierte Datenspenden das neue Blutspenden sein wird! Ein Akt der Solidarität. 

Fleisch: 

Radikale Datenschutzdiskussionen sind eher etwas für gesunde Menschen. Die überwiegende Mehrheit sucht nach einer Möglichkeit, ihre Gesundheitsdaten bequem und sicher zu speichern und zu verwenden. Haben wir so ein Werkzeug, dann entscheidet jede Bürgerin und jeder Bürger selber, wem sie wann zu welchem Zweck den Zugriff auf einen ausgewählten Teil ihrer Daten gewähren. Spätestens dann ist Datenspenden das neue Blutspenden.

 

Wenn es um Daten geht, so sind der Datenschutz und Datensicherheit nicht weit. Inwiefern stellt der Datenschutz eine Hürde dar, wenn es darum geht, Gesundheitsdaten zu vernetzen oder auch auszuwerten?

Fleisch: 

Jedes Medikament, das wir heute einnehmen, wurde auf anonymisierten Daten entwickelt, die Mitmenschen für uns in klinischen Studien erzeugt haben. Sie haben dafür etwas Hoffnung, Geld oder einfach nur Genugtuung bekommen. Wer das weiß – oder schlicht: wer krank ist und Hilfe sucht –, der ist gerne bereit, seine anonymisierten Daten zu seinem eigenen Nutzen, für seine Kinder, Enkel und Mitmenschen herzugeben, wenn die Infrastruktur so sicher und bequem ist, wie unsere e-BankingSysteme es sind. 

Mönninghoff: 

Datenschutz und Datensicherheit sind keine Hürden, sie sind allerdings essenziell, wenn Informationen im digitalen Raum gespeichert werden. Dies betrifft nicht nur die Medizin, sondern auch Firmen und Ministerien, die ihre Daten digital speichern oder Informationstechnologie nutzen. Was allerdings auch auffällt, ist, dass Datenschutz mehrheitlich von gesunden Menschen gefordert wird. Patienten haben meist ein Eigeninteresse, ihre Daten zu teilen, sich mit anderen Betroffenen auszutauschen oder die medizinische Forschung voranzubringen. Das sehen wir auch in den Patientenforen. Nicht umsonst ist PatientsLikeMe die erfolgreichste Plattform, auf der sich Menschen über ihre Krankheiten austauschen, in vollem Bewusstsein, dass Pharmafirmen daraus wertvolle Informationen generieren, die ihnen helfen, neue Therapien zu entwickeln. 

Viele Daten liegen nach wie vor in unzugänglichen Datensilos oder sind gar nicht maschinenlesbar. Wird sich das in Zukunft ändern? 

Mönninghoff: 

Ich denke, die Richtung stimmt. In Europa lernt man bereits voneinander und versucht, gemeinsame Standards zu beschließen. Estland und Finnland sind bereits recht gut im Digitalisieren und Speichern von Gesundheitsdaten. In der COVID-Krise hat sich gezeigt, wie hilfreich das digitalisierte Gesundheitssystem Israels war, um schnell Daten über Impferfolge zu generieren. Von diesen Erkenntnissen profitiert nun die ganze Welt. Langfristig ist es wichtig, dass Daten anonymisiert, in guter Qualität und maschinenlesbar gespeichert werden. Es ist noch offen, ob diese Gesundheitsdatenbanken privatwirtschaftlich oder staatlich geführt werden. 

Können Gesundheitsleistungen überhaupt automatisiert werden, etwa durch Symptomchecker? 

Mönninghoff: 

Ich denke, dass langfristig die telemedizinische Betreuung, die bereits erfolgreich zum Beispiel durch Versicherungen in der Schweiz angeboten wird, mehr an Bedeutung gewinnen wird. Patienten rufen zuerst eine Hotline an oder nutzen die Symptomchecker-App der Versicherung, die abklärt, wie dringlich das medizinische Problem ist und ob ein Ambulanzbesuch oder Arztbesuch nötig ist. Langfristig haben solche Lösungen das Potenzial, die überfüllten Spitalsambulanzen zu entlasten und auch unnötige Kosten zu sparen. Erfahrungen aus den USA, dem Vereinigten Königreich und der Schweiz zeigen, dass damit 20 Prozent weniger Patienten in die Notaufnahme gehen. 

Fleisch: 

Eine Studie der Bertelsmann Stiftung zeigt, dass sich in Deutschland 58 Prozent der Patienten vor dem Arztbesuch im Internet informieren und 62 Prozent nach der Sprechstunde die Diagnose des Arztes googeln. Es wird gegoogelt und auch überprüft, was der Arzt gesagt hat. Zudem tauschen sich immer mehr Patienten digital mit anderen Patienten aus.

Mönninghoff: 

Damit müssen auch die Ärzte erst umzugehen lernen, denn das verändert die Dynamik zwischen Ärzten und Patienten und bringt viele Chancen. Studien zeigen nämlich, dass sich Gesundheitswissen von Patienten positiv auf deren Gesundheit auswirkt. 

Fleisch: 

Dennoch darf man nicht außer Acht lassen, dass das Phänomen der Cyberchondrie zunimmt. Und auch hier ist es von der Seriosität der angebotenen digitalen Tools abhängig, wie genau und präzise diese entwickelt werden. Denn Patienten wählen den einfachsten Kanal, der ihnen etwas über ihre Krankheit oder ihren akuten Zustand sagt. Es gibt im Internet momentan auch viel Falsch- oder Halbwissen. Ich glaube aber auch, dass die Menschen in der Regel recht vernünftig mit solchen Symptomcheckern umgehen. 

 

Und die Ärzte? Wie können die von der Digitalisierung und zum Beispiel von künstlicher Intelligenz profitieren? 

Fleisch: 

Digitale Technologien vergrößern die Wirkungskraft von Ärzten. Beispielsweise holen sich Ärzte zukünftig über digitale Tools immer öfter eine Zweitmeinung ein. Das medizinische Wissen steigt ständig an, niemand kann alles wissen und immer auf dem aktuellsten Stand sein. 

Mönninhoff: 

Künstliche Intelligenz kann Radiologen schon heute bei der Diagnose von Röntgen- oder Computertomographie-Bildern unterstützen. Hierzu gibt es in den USA Lösungen, die von der FDA zugelassen wurden und in Studien bewiesen haben, dass der Algorithmus verlässlich gewisse Krankheitsbilder diagnostizieren kann. Auch in der Dermatologie gibt es gute Lösungen, die auf KI setzen. Auch hier geht es wieder um Bilderkennung. Künstliche Intelligenz kann Ärzten in Form von Sprachassistenten aber auch administrative Arbeit abnehmen, z.B. das Festhalten von Diagnosen oder das Abrechnen von Leistungen. In der Schweiz verbringen Ärzte laut Studien 50 Prozent ihrer Zeit mit administrativer Arbeit. Hier liegt also großes Potenzial, die Ärzteschaft zu unterstützen. 

 

Sie blicken also positiv in die Zukunft? 

Fleisch: 

Ja. Richtig eingesetzt, bedeutet Digitalisierung einen riesigen Zugewinn für alle Teilnehmer am Gesundheitssystem. Die Qualität steigt, die Kosten werden leistbar. 

Mönninhoff: 

Es ist ein langfristiger Prozess. Die Medizin wird sich nicht von heute auf morgen digitalisieren. Wir sollten den Digitalisierungsschub aus der Corona-Pandemie aber nutzen.
 

Quelle: ÖKZ 06-07/2021 (Jahrgang 62), Springer-Verlag

Verwandte Artikel
Nahaufnahme einer elektronischen Schaltung
Nahaufnahme einer elektronischen Schaltung
Alles digital?
Bericht von der 20. Jahrestagung des Deutschen Netzwerks ...
Transformation: Schmetterling schlüpft aus seinem Cocoon
Transformation: Schmetterling schlüpft aus seinem Cocoon
Von der Digitalisierung zur Transformation

Das Paradebeispiel für erfolgreich vollzogene Transformation ist ...