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Medizin und Wahrheit

29. August 2022 | Martin Fischmeister
Chirurg zieht sich Handschuhe an.
Chirurg zieht sich Handschuhe an.

Wenn ein kleiner Bub seine Eltern beschwindelt und diese kommen ihm auf seine Untaten, dann wird er in aller Regel liebevoll darauf aufmerksam gemacht, dass das gar nicht geht und den Ehrenkodex der Familie verletzt. Wenn ein Politiker bei einer eklatanten Unwahrheit ertappt wird, dann löst das ein Schulterzucken aus – die Sache hat sich halt nicht im Sinne der Partei richten lassen und die Reihen hinter ihm schließen sich zur Verteidigung – nicht immer, oft, vielleicht meistens. In diesem kurzen Essay soll zuerst darauf eingegangen werden, was man denn gemeinhin unter Wahrheit zu verstehen hat. Welchen Stellenwert diese in der medizinischen Wissensfindung hat und wie in den Organisationen der Gesundheitsversorgung damit umgegangen wird.

Aus neurophysiologischer Sicht gesehen konstruieren wir mit unserem physiologischen Erkenntnisapparat die Welt jeder auf seine individuelle Art, und Wahrheit in der Korrespondenztheorie bedeutet, dass unserem subjektiven Bild der Welt eine Realität gegenüberstehen muss. Die offizielle Definition von Wissenschaft der National Academy of Sciences lautet: „Science is a complicated way of learning about the world. The use of evidence to construct testable explanations and predictions of natural phenomena, as well as the knowledge generated through this process.“

Wichtig ist darauf hinzuweisen, dass es bei wissenschaftlichen Bemühungen nicht so sehr um Wahrheit geht, sondern um die Annäherung an dieselbe:

Dr. Gavin A. Schmidt, <br>US-amerikanischer Klimatologe, <br>Leiter des Goddard Institutes for Space Studies <br>(NASA GISS) <br> 
Dr. Gavin A. Schmidt, US-amerikanischer Klimatologe, Leiter des Goddard Institutes for Space Studies (NASA GISS).
Science is a method for producing incremental useful approximation to reality, not a path to absolute truth.

Dr. Gavin A. Schmidt, 
US-amerikanischer Klimatologe, 
Leiter des Goddard Institutes for Space Studies 
(NASA GISS) 
 

Das Schöne an den medizinischen Berufen ist, dass es die Natur höchst selbst ist, die uns wissen lässt, ob eine medizinische Entscheidung richtig oder falsch war. Es ist unabhängig von religiösen Überzeugungen, politischen Ansichten, der Befindlichkeit von medizinischen oder anderen Vorgesetzten und Wahlergebnissen. In den Wissenschaften gibt es nur eine Sache, die nicht verziehen wird: wenn man nicht die Wahrheit sagt. Man darf irren, man darf Fehler machen, man darf Misserfolge haben, aber man muss sie ehrlich kommunizieren, damit andere daraus lernen können. Wissentlich Daten zu manipulieren oder schlechte Ergebnisse in einer Studie zu unterschlagen, disqualifiziert den einzelnen wissenschaftlich arbeitenden Arzt, die Arbeitsgruppe bis hin zu ganzen Abteilungen.

 

Wahrhaftigkeit und ihre Hindernisse

Als ich als junger Unfallchirurg vor Jahrzehnten in Deutschland einen Kongress besuchte und wissenschaftliche Vorträge hörte, war ich angetan von den hervorragenden Ergebnissen. Ich habe perfekte Röntgenbilder gesehen und wurde beispielsweise innert dreißig Minuten genauestens über die Operationstechniken instruiert. Bei einem anschließenden Besuch im Hammersmith Hospital in London habe ich über dasselbe Thema einen halbstündigen Vortrag gehört und es wurde 25 Minuten eine OP-Komplikation nach der anderen gezeigt – so ziemlich alles, was bei so einer Operation passieren kann. Ich habe gedacht, wenn mir als Operateur all dies passiert, dann hör ich damit auf und wechsle den Beruf. Aber in den letzten fünf Minuten seines Vortrages zeigte der Operateur, dass er die dreifache Anzahl an Patienten wie sein deutscher Kollege operiert hatte und seine Ergebnisse insgesamt deutlich besser waren.

Im ersten Fall ging es dem Kollegen darum, sich selbst und sein Haus in möglichst positiver Form zu präsentieren – im zweiten, den Kollegen durch Demonstration der Komplikationen Lernerfahrungen zu vermitteln. Diese Erfahrung machte mich zu einem Fan angelsächsischer Medizin. Eine solide wissenschaftliche Ausbildung vermittelt dort den jungen Mediziner-Kollegen eine Haltung unerschütterlicher Wahrhaftigkeit. Denn nur das, ein ununterbrochenes Messen des eigenen Tuns an den Realitäten der Naturwissenschaft, ermöglicht diesen ein Überleben in einem kompetitiven Feld akademischer Institutionen – bis hin wahrscheinlich auch zu einem erfolgreichen Privatleben.

Dem stehen in einem hierarchisch organisierten Gesundheitswesen viele Hindernisse entgegen. Die Organisationen sind unsterblich (ein Organisationsversagen eliminiert sie nicht aus dem Markt). Sie mögen keine Veränderungen, mögen es nicht, geklagt zu werden, und so haben sie Strategien entwickelt, dies zu vermeiden. Einige seien hier explizit genannt.

 

Leitungsstrukturen

Die wichtigsten Entscheidungen innerhalb von Organisationen betreffen das Personal. Beginnt man bei den medizinischen Leitungsstrukturen (Abteilungsleitern und Primarii), dann lässt sich beobachten, dass es nahezu immer zuerst um die Fragen geht: 

  • Ist der Kandidat loyal (ist er einer von uns)?
  • Ist er steuerbar?
  • Hat er Führungsqualitäten im Bezug auf sein Personal?

Erst dann – kann er den Job im Hinblick auf die medizinischen Anforderungen. Erfahrung in wissenschaftlichem Arbeiten ist abgesehen von Personalentscheidungen an Universitätskliniken kein Erfordernis. Dies hat zur Folge, dass die Aufgabe, die Mitarbeiter auf ein internationales Niveau zu führen, gar nicht erst wahrgenommen werden kann. Die Mitarbeiter haben damit manchmal nicht einmal die Chance, Mitglieder internationaler Gesellschaften ihres Fachgebietes zu werden, weil deren Anforderungen (Publikationen und/oder wissenschaftliches Arbeiten) nicht erfüllt werden können. Das heißt, der Mittelbau ist bei internationalen Kongressen unterrepräsentiert – was die Spitalserhalter nicht weiter stört, denn für die genügt es, wenn die Mitarbeiter gehorsam tun, was ihnen von „Oben“ vorgegeben wird.

Ein Charakterzug einer unerschütterlichen Wahrhaftigkeit oder die Möglichkeit eines Vergleiches mit anderen, vielleicht international renommierten Institutionen ist gar nicht sosehr erwünscht. In einigen Institutionen gibt es deshalb auch keine medizinischen Jahresberichte mehr, in denen festgehalten ist, wie viele wissenschaftliche Veranstaltungen organisiert wurden oder wie viele Publikationen, wissenschaftliche Vorträge, Patentanmeldungen et cetera es im betreffenden Jahr gegeben hat. Eine Folge davon ist auch, dass die Besetzungen an den Hochschulen vielfach mit Kollegen aus dem Ausland vorgenommen werden müssen, weil es im eigenen Bereich zu wenige bis gar keine geeigneten und qualifizierten Mitarbeiter gibt.

 

Drei Kulturen

Der Umgang mit neuer Information ist darauf entsprechend ausgerichtet. Ron Westrum hat über dieses Thema gearbeitet und ein Drei-Kulturen-Modell erarbeitet.

„How Organizations process information:

  • Pathological: power oriented; low cooperation, messengers shot, responsibilities shirked, bridging discouraged, failure – skapegoating, novelty crushed.
  • Bureaucratic: rule oriented; modest cooperation, messengers neglected, narrow responsibilities, bridging tolerated, failure – justice, novelty – problems.
  • Generative: performance oriented; high cooperation, messengers trained, risks shared, failure inquiry, novelty implemented“.

Leider befinden sich viele Institutionen noch in einem punitiv autoritären und damit pathologischen Organisationsmodus, der sich an den großen historischen Vorbildern des Militärs und der katholischen Kirche orientiert. Auch die Arbeiten über die lernende Organisation von Peter Senge – vor über einem Vierteljahrhundert erschienen – haben nur wenige Impulse bewirkt.

Da die Bürokratie aber nicht gerne auf das Sagen in den Organisationen verzichtet hat, wurden die Leitungsanforderungen entsprechend verändert: An der Spitze von medizinischen Einrichtungen steht seit Langem kein medizinischer Fachmann mehr, sondern ein Jurist oder Wirtschaftsfachmann. Damit macht man die Medizin, die „on the edge“ zum Patienten oder zur Wissenschaft arbeitet, abhängig – in den finanziellen Möglichkeiten und in den personellen Entscheidungen.

 

Wissenschaft, Politik und Wirtschaft

An der Politik lernt man, wie man die Macht in den eigenen Händen und der eigenen Gruppe behält, jetzt mit Offenlegung der Chats auf eine ungewollt eindrückliche Art und Weise. In der Wirtschaft hingegen lernt man, Organisationen zu kreieren, die unglaublich erfolgreich unser Leben bereichern und verändern können.

Steve Jobs steht für eine derartig erfolgreiche Organisation; in einem seiner Interviews meinte er: „My passion has been to build an enduring company where people were motivated to make great products. Everything else was secondary. Sure, it was great to make profit, because that was what allowed you to make great products. But the products, not the profits, were the motivation. It’s a subtle difference, but it ends up meaning everything. The people you hire, who gets promoted, what you dis­cuss in meetings.“ 

Rana Foroohar, Wirtschaftskolumnistin und Associate Editor der Financial Times, drückte es so aus: „Steve Jobs had the entrepreneurial impulse to put engineers above bean counters in the corporate hierarchy.“

Das Erfordernis einer unerschütterlichen Wahrhaftigkeit ist in den Wissenschaften Grundvoraussetzung für Erfolg und Anerkennung über den lokalen und nationalen Bereich hinaus, in der Politik aber eine Eigenschaft, die einen in die Position eines avis rara befördert. Tröstlich ist, für den Alltag und das tägliche Leben ist es gut, sich an Habakuk 2/4 zu halten: „Wer nicht rechtschaffen ist, schwindet dahin, der Gerechte aber bleibt wegen seiner Treue am Leben.“

Quelle: QUALITAS, 02/2022, Springer-Verlag.

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