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Andrea Ammon ist Direktorin des ECDC, der EU-Behörde zur Prävention von Infektions-Krankheiten. In den ersten COVID-Wochen hätten die panischen Einzelgänge vieler Nationen die Situation eskalieren lassen.
Corona wird bei uns bleiben – aber nicht in der Form, wie wir es 2020 kennengelernt haben. Mittlerweile stehen uns ja Impfungen und Therapiemöglichkeiten zur Verfügung. Wir müssen dazu übergehen, COVID-19 so zu behandeln wie andere respiratorische Erkrankungen auch.
"Wir haben den Beginn der Pandemie gut erfasst. Die erste bestätigte Meldung über unbekannte Pneumonien in Wuhan haben wir schon am 31. Dezember 2019 erhalten. Am Anfang sind wir noch davon ausgegangen, dass es sich um eine Übertragung von Tieren auf den Menschen handelt. Als sich dann herausgestellt hat, dass diese Erkrankung auch von Mensch zu Mensch übertragen werden kann, war uns klar, dass auch für Europa ein Risiko besteht. Als dann in Europa die ersten Fälle aufgetreten sind und sich gezeigt hat, dass die Erkrankung auch von asymptomatischen Infizierten übertragen werden kann, wussten wir, dass es sich um eine massive Bedrohung handelt. Die ersten Wochen haben eine steile Lernkurve mit sich gebracht."
"Das System für die Surveillance – also für das Erheben, Bewerten, Analysieren und Verbreiten der Daten betreffend die Infektionskrankheit – war innerhalb von ein paar Wochen aufgesetzt. Das Problem war nur, dass die Tests nicht in der notwendigen Breite zur Verfügung standen. Die EU-Mitgliedstaaten haben dabei unterschiedliche Teststrategien angewendet. Wir haben zwar Orientierungshilfen herausgegeben, aber die Länder haben andere Prioritäten gesetzt. So unvollständig der Situationsüberblick auch gewesen sein mag: Wir haben von Anfang an täglich aktuelle Infektionszahlen veröffentlicht, aufgeschlüsselt nach Ländern, Zeit und den verschiedenen Altersgruppen. Zusätzlich haben wir Risikobewertungen ausgearbeitet, in denen auch die Optionen angeführt waren, die den Mitgliedsländern offenstehen. Auch wenn diese nicht immer alles umgesetzt haben, was wir vorgeschlagen haben: Wir haben ein eindeutiges Feedback von den Ländern bekommen, dass das Aufzeigen der Optionen extrem hilfreich für sie war."
"Ja. Die kleineren Länder mehr als die großen. Wir haben Orientierungshilfen herausgegeben für Infektionsprävention im Krankenhaus und in den Arztpraxen, für die Nachverfolgung von Kontaktpersonen, für die Hygiene in den Schulen, über den Einsatz der Gesichtsmasken. Manche Länder haben gesagt: Diese Orientierungshilfen waren für sie wie die Bibel. Andere Länder haben das nicht so gesehen und sich herausgenommen, wovon sie dachten, dass das für sie passt."
"Zu Beginn der Pandemie haben sich die einzelnen Staaten alle national eingeigelt. Als sie dann gemerkt haben, dass das nicht weiterführt, ist die Zusammenarbeit sehr gut geworden. Bei der Beschaffung und Verteilung der Impfstoffe hat sich eine hohe Solidarität der großen mit den kleinen Ländern gezeigt. Die großen wären sicher in der Lage gewesen, sich selbst Impfstoff zu besorgen. Aber sie haben gewartet, bis die Verhandlungen für eine gemeinsame Beschaffung abgeschlossen waren, sodass schließlich jedes EU-Land, egal ob klein oder groß, proportional gleich viel Impfstoff bekommen hat."
"Im Vertrag von Lissabon ist festgelegt, dass jedes Land für die Organisation und Finanzierung seines Gesundheitswesens selbst zuständig ist. Wir können den Mitgliedsländern daher nur raten, was sie tun sollen, aber es gibt keine Verpflichtung, unserem Rat zu folgen. In Zukunft müssen wir verstärkt mit den Mitgliedsländern in Dialog treten, damit unsere Orientierungshilfen und Ideen besser angenommen werden."
"Wir beabsichtigen, stärker mit den EU-Mitgliedstaaten zusammenzuarbeiten und auch länderspezifische Bedürfnisse zu berücksichtigen. Wir müssen versuchen, die einzelnen Länder in die Überwachung einzubauen, sodass es keine separaten Surveillance-Systeme mehr gibt. COVID-19 soll zusammen mit anderen Erkrankungen wie etwa Influenza überwacht werden. Die Art und Weise, wie wir die Surveillance bislang aufgezogen haben, verlangt zu viel Zeit von den Experten. Die waren damit beschäftigt, die Kontaktpersonen von Infizierten zu finden, und mussten am Ende des Tages auch noch alle Daten ins System eingeben. Dieser Schritt muss in Zukunft digitalisiert werden, aber das braucht seine Zeit."
"Die Pandemiepläne müssen überarbeitet werden und zwar insbesondere für die Krankenhäuser. Weil sehr schnell mehr Betten und Personal gebraucht wurden, sind zahlreiche Lösungen gefunden worden: wie man normale Betten zu Intensivbetten erweitert, wie man Zelte oder requirierte Gebäude als Krankenhäuser nutzt, dass man manche Patienten zu Hause behandeln kann. All das muss jetzt hinein in die Pandemiepläne, damit man es in Zukunft nicht wieder neu erfinden muss. Mit dem Personal ist es schon sehr viel schwieriger. Ausgebildete Intensivpflegepersonen bekommt man nicht so leicht. Aber auch hier hat es Lösungen gegeben: Weil nicht jedes Land zum gleichen Zeitpunkt gleich betroffen war, haben sich Länder gegenseitig mit Ärzten und Personal ausgeholfen. Auch die Kommunikation muss in Zukunft in den Pandemieplänen stärker berücksichtigt werden. Die Demonstrationen von Maßnahmen- und Impfgegnern haben gezeigt, dass die Bevölkerung nicht mehr willens ist, einfach Anweisungen hinzunehmen. Wenn die Bürger dazu beitragen sollen, die Pandemie unter Kontrolle zu bringen oder unter Kontrolle zu halten, dann müssen sie auch eingebunden werden. Wir haben gesehen, dass die Maßnahmen, die wir getroffen haben, ethische Dimensionen haben: Die Freiheit des Einzelnen wurde im Namen des Gemeinwohls beschränkt. Solche Maßnahmen erfordern einen konstanten Dialog mit der Bevölkerung. Eine wichtige Aufgabe ist es auch, das Vertrauen in Impfungen wiederzugewinnen."
"Es gibt einen harten Kern Menschen, die sich wohl nicht bekehren lassen. Aber es gibt viele, die mitgelaufen sind, die verärgert oder enttäuscht waren, weil ihre persönliche Freiheit eingeschränkt war, ohne dass man ihnen richtig erklärt hat, warum. Diesem weit verbreiteten Individualismus muss man die Solidarität, also das gegenseitige aufeinander Aufpassen, gegenüberstellen. Dazu muss man analysieren, auf wen die Menschen in den verschiedenen Gesellschaften hören. So bitter das für Wissenschaftler und Politiker sein mag: Das müssen nicht Vertreter dieser beiden Gruppen sein, das können ganz andere Leute sein. Diese muss man dann ansprechen und versuchen, sie für solche Überzeugungsaufgaben zu gewinnen."
"Weil der Erreger ein anderer sein wird, wird diese Pandemie auch eine andere sein. Ich hoffe, dass uns genügend Zeit bleibt, die Surveillance so aufzusetzen, dass wir Ausbrüche noch schneller erkennen. Vorausschau und Vorsorge müssen weiter verbessert werden. Und wenn der Fall eintritt, dann hoffe ich, dass die Pandemiepläne erprobt sind. Ein Pandemieplan ist ja gut und schön, aber wenn er nicht getestet wird, dann hilft er in der Praxis nicht. Deswegen ist es unsere Absicht, künftig mit den Ländern Simulationsübungen zu machen, nicht nur auf nationaler Ebene, sondern auch auf lokaler Ebene, weil dort die erste Welle direkt ankommt. Wir haben jetzt im Ernstfall lernen müssen, wie man Pandemiepläne umsetzt, aber das kann man genauso gut vorher simulieren. Auf diese Weise lässt sich erkennen, wo sich noch Schwachpunkte im Pandemieplan finden und wo nachgebessert werden muss."
"Klarerweise hat sich ein Bewusstsein für die Gefahren, die von einer Pandemie ausgehen, ausgeprägt. Allerdings beginnt es bereits wieder nachzulassen. Aus manchen EU-Mitgliedstaaten höre ich, dass die in der Pandemie aufgebauten Strukturen wieder abgebaut werden. Das ist vielleicht noch ein bisschen zu früh. Diesen Winter sollten wir schon noch abwarten. "
Quelle: ÖKZ, 63. JG, 11/2022, Springer-Verlag.