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Führung ver­stehen: Strate­gie

4. November 2024 | Heinz K. Stahl
Zufriedener Arzt.
Zufriedener Arzt.

„Strategie“ ist heutzutage Pflicht. Es gibt kein Vorhaben mehr, keinen Plan, kein Bestreben. Wer abnehmen will, braucht eine Diätstrategie, gegen Langeweile hilft eine Freizeitstrategie und die große Liebe wird mit einer Strategie der Partnersuche eingefangen. 

Dabei könnten wir doch froh sein über diese Banalisierung, denn bei SUNZI, dem chinesischen Altmeister strategischen Denkens (ca. 500 v. Ch.), war alles noch auf den bösen Feind ausgerichtet. Wie in der US-amerikanischen Managementliteratur („Jedes Unternehmen braucht ein Feindbild“), die uns seit den frühen 1960er-Jahren überschwemmt. Ich möchte im Folgenden etwas Wasser in den Wein der Strategie-Euphorie gießen. Nicht aus Böswilligkeit, sondern um zum Nachdenken über „Strategie“ anzuregen. Wer seine Organisation strategisch zu führen gedenkt, sollte sich bewusst sein, was er sich damit unter Umständen einhandelt.

Eine Strategie ist ein Handlungsplan mit Zielen und daher langfristig angelegt. Doch was heißt langfristig, wenn morgen alles schon wieder ganz anders sein kann? Wer etwa 2019 eine Strategie für die nächsten fünf Jahre entwarf, fragt sich heute erschrocken, wie man denn bloß so danebenliegen konnte. Zum Problem der Fristigkeit kommt jenes der Orientierung hinzu. Eine Strategie soll die Richtung für die ganze Organisation vorgeben. Am besten funktioniert das, wenn man den Menschen Scheuklappen anlegt. Sie traben dann, von Störungen abgeschirmt, brav in die gewünschte Richtung. Wenn allerdings plötzlich etwas in die Quere kommt, hilft auch keine „Frühaufklärung“. Denn einmal in Bewegung, marschieren alle konsequent in das Hindernis.

Noch etwas. Eine Strategie beruht auf Annahmen. Nicht nur für die eigene Organisation, sondern vor allem für das gesamte Umfeld muss gefragt werden, wie und in welchem Ausmaß sich bestimmte Dinge verändern werden. Ein penibler Stratege kommt so leicht auf Dutzende von Annahmen, die alle ihre Berechtigung haben. Eine Strategie muss jedoch vereinfachen, sonst kann sie keine Richtung bestimmen. Damit koppelt sie sich zwangsläufig von der realen Welt und ihrer Entwicklung ab. Sie wird zu einem Entwurf, der im geschützten Glashaus entstanden ist. Hinzu kommt: Strategie bedeutet ein Denken in Spielzügen. Gute Schachspieler sind in der Regel auch erfolgreiche Strategen. Nur, ein solches Denken schüttelt man nicht aus dem Handgelenk. Es braucht den ausführlichen Dialog mit Menschen, die wirklich wissen, was „da draußen los ist.“ Als Strategieentwickler spürt man dann, wie einem die Zeit davonläuft. Man kürzt den Prozess einfach ab.

Und schließlich ist Strategie auch etwas Nichtalltägliches. Sie wird nicht auf offener Bühne, sondern hinter geschlossenen Vorhängen ausgeheckt, um dann als Bombenwurf in der laufenden Organisation zu landen. Trotz aller Abschottung werden jedoch schon früh Einzelheiten der Strategie bekannt, etwa „Die wollen uns auslagern“, „Unser Standort wackelt“. Organisationen können in solchen Situationen enorme Fantasie und Energie entwickeln, um die beabsichtigte Strategie zumindest zu „rupfen“ oder sogar zu blockieren. Es ist nahezu ein Naturgesetz: Vom ursprünglichen strategischen Plan bleibt nur ein Rest übrig. Ist das ein Malheur? Nicht unbedingt, denn die verbleibende Strategie trifft auf eine Strategie, die sich im Lauf der Zeit durch die Selbstregelung der Organisation herausgebildet hat. Sie ist das Ergebnis der unzähligen Handlungsmuster, die sich die Menschen in der Organisation zurechtgelegt haben, um die Organisation am Laufen zu halten.

Mit dieser Kombination aus den sich selbst herausbildenden Mustern und dem Rest der formulierten Strategie wird zweierlei sichergestellt: Die Organisation versteht es, sich Veränderungen verschiedenster Art immer wieder anzupassen und bleibt damit lernfähig. Sie muss aber zugleich bestimmte strategische Absichten berücksichtigen. Was bedeutet dies für die Entwicklung einer Strategie in unseren Zeiten hoher Unbestimmtheit? Weg mit den grandiosen Entwürfen. Sie sind in dem Moment, in dem sie in die Organisation geworfen werden, hoffnungslos veraltet. Zweckmäßiger ist es, von vornherein die Strategie als Schirm aufzuspannen. Darunter sind für alle in der Organisation bestimmte Eckpflöcke und Umrisse der Strategie erkennbar, aber es bleiben die Türen für vielfältige Lernerfahrungen offen. Improvisieren und Durchwursteln sind durchaus erwünscht, weil sie ja innerhalb eines vereinbarten strategischen Rahmens erfolgen.

Quelle: Qualitas 03/2024, 65. Jahrgang, Springer-Verlag.

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