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Einst war Österreich mit dem Aufbau von ELGA ein Vorreiterland in puncto eHealth. In fünf Jahren ist das System nicht einen Millimeter näher zum Patienten gekommen – weder in Akzeptanz noch im Nutzen. Für einen Modernisierungsschub fehlen das Geld und die Vision.
Die Rückenschmerzen verderben der 82-jährigen Pensionistin die Lust, am Morgen das Bett zu verlassen. Es sei etwas mit den Bandscheiben, meinten die vielen konsultierten Ärzten und Ärztinnen. Vor Jahren hatte ihr ein Primar eines großen Wiener Krankenhauses in seiner Wahlordination helfen können: Die gleichen Symptome waren nach einer Infiltration deutlich erträglicher. Mit Hilfe ihrer Tochter hatte sie wieder einen Termin bei ihrem Arzt der Hoffnung organisiert. Wartezeit drei Wochen. Als Mutter und Tochter endlich an der Rezeption standen, gab es die herbe Enttäuschung: Wo denn die letzten radiologischen Befunde von Röntgen und MRT wären? Zaghafte Entgegnung der Tochter: Davon habe niemand etwas im Vorfeld erwähnt. Und außerdem, da gäbe es doch dieses Befundaustauschsystem…. Dies waren die letzten Worte des Mutter-Tochter-Gespanns in der Ordination. Die Rezeptionistin war in ihren Worten eindeutig: Darauf habe man keinen Zugriff und ohne MRT könne der Herr Professor nichts machen. „Auf Wiedersehen.“
Der Begriff eHealth hat die Definitionsbreite eines Corona-Maßnahmenpakets. Jeder versteht darunter etwas anderes und ein Gutteil der Angesprochenen überlegt automatisch, wie er die Bestimmungen umgehen könne. Das Verständnis reicht je nach ExpertIn von speziellen Netzwerkverbindungen bis zum Meta-Begriff der digitalisierten Medizin. Dort wird alles hineingepackt, was im Gesundheitsbereich mit Bits und Bytes zu tun hat. Neben Befundaustausch werden gerne Videosprechstunden, digitale Gesundheitsanwendungen (Gesundheitsapps) und Anwendungen wie eMedikation (Auflistung aller verschriebenen Medikamente) und eRezept verstanden. Aber, wie Robert Mischak, Studiengangsleiter eHealth an der Grazer FH Joanneum festhält, „eine von allen anerkannte Definition des Begriffes gibt es nicht“.
Etwas einfacher ist die Begriffsbestimmung der Elektronischen Gesundheitsakte ELGA: Das in Österreich seit 2005 entwickelte Informationssystem wird europaweit als Paradebeispiel einer eHealth-Anwendung genannt. Dabei kommt es zu einem österreichischen Spezifikum: Sein Ruhm nimmt mit dem Abstand zu den österreichischen Grenzen kontinuierlich zu. Bernd Ohnesorge, beim Medizintechnik-Konzern Siemens Healthineers für Europa, den Mittleren Osten und Afrika zuständig, kennt die heimische Gesundheitsbranche aus dem Effeff. Er ist Aufsichtsratschef der Österreich-Konzerntochter: „Die Vernetzung von Gesundheitseinrichtungen ist ein elementares Asset. Österreich ist in dem Punkt weiter als andere Länder.“
In der Alpenrepublik wurde die schrittweise Umsetzung von ELGA bereits im Dezember 2015 in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen in Wien und der Steiermark in Angriff genommen. Deutschland hat die elektronische Patientenakte ePA mit 1.1.2021 eingeführt – mit allen denkbaren Startschwierigkeiten.
Das Informationssystem ELGA verbindet behandelnde Ärztinnen und Ärzte, Spitäler, Pflegeeinrichtungen und Apotheken, um im Behandlungsfall die Gesundheitsdaten des Patienten oder der Patientin zur Verfügung zu haben. Dabei geht es in erster Linie um Entlassungsbriefe, Befunde aus allen Fachbereichen, auch der bildgebenden Diagnostik (Röntgen, MRT) sowie der Medikationsdaten. Das Problem dabei: Es finden sich außerhalb der öffentlich-rechtlichen Krankenanstalten und Pflegeeinrichtungen zu wenig Gesundheitsdiensteanbieter, sogenannte GDAs, die das Informationsnetz mit Daten füttern. Anders formuliert: Ärztinnen und Ärzte aus den niedergelassenen Fachbereichen stellen ihre Patientenbefunde selten bis gar nicht in das Austauschsystem ein.
Dazu wären Kassenärzte laut ELGA aber verpflichtet. Allerdings gibt es im niedergelassenen Bereich keine Sanktionen – anders als bei den öffentlich-rechtlich finanzierten Einrichtungen, in denen die Trägerinstitutionen von Bund und Land direkten Einfluss haben. Und ob ein Arzt den eBefund nutzt oder nicht, bleibt ganz allein ihm überlassen. Darum wurde die 82-jährige Pensionistin völlig rechtens wieder weggeschickt, zumal sie eine Wahlordination aufgesucht hatte. Es war aber alles andere als unvermeidlich.
Als Konsequenz der mangelnden Speicherfreudigkeit der Ärzteschaft ist das Befundaustauschsystem sechs Jahre nach seinem Start immer noch schwach auf der Brust: ELGA verfügt über eine zu geringe Schwungmasse, um von den Medizinern oder den Patienten als wertvoller Informationsdienstleister täglich wahrgenommen zu werden. Dass die Bedienungsfreundlichkeit der Portale im Bereich der Suchfunktionen und Trefferdarstellung von IT-Experten als „hanebüchen“ bezeichnet wird, befeuert die Beliebtheit der ELGA-Anwendungen unter Ärzten nicht.
ELGA, die Zweite: Eine betagte herzkranke Steirerin bittet ihren Sohn, den Notarzt zu rufen. Die Dame bleibt bei Bewusstsein, wird aber völlig teilnahmslos. Der Notarzt kommt und fragt den begleitenden Sohn, welche Medikamente die Mutter einnähme. Er wisse es nicht, antwortet er, aber dies müsse doch über die eMedikation zu erfahren sein. Die Antwort des Notarztes war eindeutig: Er habe keinen mobilen Zugang und die Kollegen im Spital würden auch nicht nachschauen.
Franz Leisch sind derartige Geschichten unüberhörbar unangenehm. Er ärgert sich. Leisch ist Geschäftsführer der ELGA Gmbh, der Betreibergesellschaft von Österreichs eHealth-Informationssystem. Das Konzept für einen mobilen Zugang zu ELGA liege seit Langem in den Schubladen. Aber er habe für die Umsetzung kein Geld. Gleich neben den Konzepten für den mobilen Ausbau befänden sich die Pläne, das Befundaustauschsystem auch bildübertragungsfähig zu machen. Denn die schiere Größe von Bilddateien, wie sie nach Röntgen- und Magnetresonanz-Untersuchungen angefertigt werden, sprenge bislang die Übertragungskapazitäten der ELGA-Infrastruktur. „Uns fehlt die Finanzierung für die ELGA-Modernisierung“, klagt Leisch und ist hörbar sauer: „Wir arbeiten nach Fünf-Jahresplänen wie in der Sowjetunion“.
Ursprünglich stellten Bund, Länder und Sozialversicherung für den Zeitraum 2017 bis 2020 ganze 41 Millionen Euro zur Finanzierung von ELGA zur Verfügung. Und daran habe sich nichts geändert. Die Pandemie hat durch Sonderprojekte wie den vorgezogenen Impfpass oder den Umbau der eMedikation die verordneten Planungszyklen verschoben, aber nicht ausgehebelt. Die Verhandlungen für den nächsten Fünf-Jahresplan sind gerade im Laufen. Bis dahin ist das Gesamtjahresbudget bei zehn Millionen Euro gedeckelt: „Da geht es uns wie dem Bundesheer. Die Fixkosten für Personal und Betrieb entsprechen dem Budget.“
Spielräume für Weiterentwicklungen gäbe es keine. Folgt man den ELGA-Wünschen, würde eine Erhöhung auf 16 Millionen Euro reichen, um einer umfassenden ELGA-Modernisierung und -Erweiterung einen Schub zu geben. Der generelle Bilddatentransfer wäre nicht länger eine Zukunftsvision – und damit Aussicht auf eine deutlich verbesserte Akzeptanz unter den Radiologen, wie es aus der Ärztekammer heißt. Aber die Pandemievorgabe „Koste es, was es wolle“ ist für ELGA abgesagt. Aus der ÖGK ist zu hören, dass ein Modernisierungsprojekt bei ELGA keine Priorität genieße.
Unter weiten Kreisen der Ärzteschaft genießt das Befundaustauschsystem das Ansehen eines österreichischen Fußball-Teamchefs: medial gehypt, im Arbeitsalltag irrelevant. Patientinnen und Patienten kommen gar nicht in die Verlegenheit, die Vorzüge eines Austauschsystems für Gesundheitsdaten zu bemerken. Der Grazer Studiengangsleiter Robert Mischak ist überzeugt, dass „in den vergangenen Jahren zu wenig getan wurde, Patienten und Ärzten deutlich zu machen, welchen Nutzen ELGA für alle bringt“. Und er liefert in ziselierten Worten eine Begründung für die jahrelangen Startschwierigkeiten von ELGA: „Die Digitalisierung gilt als Gamechanger. Das bedeutet, die Spielregeln ändern sich, aber auch die Spieler. Das löst unter den bisherigen Akteuren eine gewisse Zurückhaltung aus.“
Was tragfähige eHealth-Systeme in Krisenzeiten leisten können, führt Israel der Welt vor Augen – jeden Tag. Bernd Ohnesorge: „Israel ist das Beispiel, wo sich eine lebendige Gesellschaft durch die Durchdigitalisierung seines Gesundheitssystems auf wirksame Analyse- und Steuerungstools verlassen kann.“ Und dies habe weltweite Effekte: „Viele Staaten leiten Teile ihrer Impf-Strategie von den Erfahrungen der Israelis ab.“
Israel startete bereits 1995 erste Projekte zum Austausch digitaler Gesundheitsdaten. E-Rezepte, Telemedizin und Online-Zugänge zu elektronischen Gesundheitsakten sind seither etabliert. Im März 2018 setzte das Gesundheitsministerium ein Projekt namens „Psifas“ („Mosaik“) auf, das medizinische Angaben zu nahezu allen israelischen Bürger in eine umfangreiche digitale Patientendatenbank zusammenführt. Dabei wird nicht gekleckert: Das Fünfjahres-Budget beträgt 232 Mio. Euro.
Trotz aller Datenschutzbedenken – mit Hilfe der Informationen aus dem eigenen System konnte Israel die vierte Welle durch frühzeitige Booster-Piks brechen. Für Bernd Ohnesorge ist das nicht nur ein Erfolg der Technik, sondern des Vertrauens: „In Israel gelang es, den größten Teil der Bürgerinnen und Bürger vom ganz persönlichen Nutzen einer Impfung zu überzeugen. Da müssen wir hin.“