Für Bundesgesundheitsminister Jens Spahn ist die Pflegereform ein zentrales Thema. Doch in wenigen Monaten endet die Legislaturperiode. Es sieht danach aus, dass dieses Projekt an die folgende Regierung übergeben werden muss, denn ein Gesetzentwurf liegt immer noch nicht vor. Selbst innerhalb der Union gehen die Meinungen über die bisherigen Pläne weit auseinander.
25 Jahre nach Einführung der Pflegeversicherung kündigte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn Anfang Oktober vorigen Jahres die Eckpunkte einer Pflegereform an, um „eine neue, eine richtige Balance für die 20er-Jahre zu finden.“ Er meinte damit das Verhältnis „des Einzelnen und der Familie zu Gesellschaft und uns als Solidargemeinschaft.“ Die Pflege solle, auch aufgrund der Erfahrungen der vergangenen Monate, für die 20er-Jahre fit gemacht werden. „Jeder in die Pflege investierte Euro ist eine Investition in die Mitmenschlichkeit unserer alternden Gesellschaft“, so die Maxime des Ministers. Konkret stellte er den Pflegekräften höhere Löhne in Aussicht und versprach bessere Leistungen für häusliche Pflege sowie eine Deckelung der Pflegekosten für Heimbewohner.
Deckelung, Leistungserhöhung und Tariflohn
Nach den Plänen Spahns beruhte die Pflegereform zunächst auf drei Säulen. Erstens: Deckelung des Eigenanteils für die Pflege im Heim. Künftig soll niemand für stationäre Pflege länger als 36 Monate mehr als 700 Euro pro Monat zahlen. Der Eigenanteil umfasst dabei nicht die Kosten für Unterkunft und Verpflegung. Zweitens: Für die häusliche Pflege wird ein jährliches Pflegebudget eingeführt, mit dem Kurzzeit- und Verhinderungspflege gezahlt werden. Dies gilt für Pflegebedürftige ab Pflegegrad 2. Wer Angehörige zu Hause pflegt, bekommt außerdem mehr Leistungen. Pflegegeld und Pflegesachleistungen sollen kontinuierlich nach festen Sätzen erhöht werden. Drittens: Pflege wird regelhaft besser entlohnt. Dafür sollen ausschließlich ambulante Pflegedienste und Pflegeheime zugelassen werden, die nach Tarif oder tarifähnlich bezahlen.
Gut vier Wochen später legte der Minister neue Details zu den pflegepolitischen Plänen in einem Eckpunktepapier vor. Demzufolge sollen die Bundesländer einen monatlichen Zuschuss zu den Investitionskosten in Höhe von 100 Euro für jeden Pflegebedürftigen zahlen, der vollstationär versorgt wird. Und die Arbeitgeber sollen verpflichtet werden, Pflegekräfte nach Tarif zu entlohnen – als Voraussetzung für die Zulassung zur Versorgung. Zudem sollen Pflegekräfte die Berechtigung erhalten, Pflegehilfsmittel selbst zu verschreiben.
Für die Leistungen der Pflegeversicherung ist eine Erhöhung vorgesehen. Im Detail lauten die Pläne: Ambulante Pflegesachleistung, Pflegegeld und Tagespflege steigen zum 1. Juli 2021 um fünf Prozent und ab 2023 jedes Jahr regelhaft in Höhe der Inflationsrate. Für zum Verbrauch bestimmte Pflegehilfsmittel steigt die Pauschale von 40 auf 60 Euro pro Monat. Für Kurzzeitpflege gibt es erweiterte Möglichkeiten. Leistungen der Kurzzeit- und Verhinderungspflege werden zu einem Entlastungsbudget von 3.300 Euro pro Jahr gebündelt. Und Rehabilitationsmaßnahmen für Menschen über 70 Jahre werden erweitert. Dafür übernehmen die Pflegekassen die Hälfte der Kosten. Die Gesamtkosten für das Reformpaket beziffert der Bundesgesundheitsminister auf sechs Milliarden Euro. Finanzieren will er dies zum einen durch Steuermittel, zum anderen durch die Erhöhung des Beitragszuschlags für Kinderlose um 0,1 Beitragssatzpunkte. Diese Mittel werden dem Pflegevorsorgefonds zugeführt.
Abkehr von der Deckelung
Mitte März rückte Jens Spahn von seinem Plan ab, den Eigenanteil bei 700 Euro für die stationäre Pflege zu deckeln. Das Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) berichtete: Je länger ein Bewohner in einem Pflegeheim lebt, desto geringer werde sein Eigenanteil. Der Eigenanteil bei den Pflegekosten reduziere sich im zweiten Jahr um 25 Prozent, im dritten Jahr um 50 Prozent und ab dem vierten Jahr dauerhaft um 75 Prozent. Damit würden die Pflegekosten im zweiten Jahr auf 623 Euro, im dritten Jahr auf 415 Euro und ab dem vierten Jahr auf 207 Euro sinken. Es entfiele die ursprüngliche Zusage, dass der Eigenanteil auch bei längeren Aufenthalten bei maximal 25.200 Euro gedeckelt sei.
Kritik aus den eigenen Reihen
Noch liegt kein offizieller Entwurf der Pflegereform für eine Kabinettsbefassung vor. Dafür mehren sich kritische Stimmen – sogar in Spahns eigener Partei. So empfiehlt die Mittelstands- und Wirtschaftsunion (MIT), der größte parteipolitische Wirtschaftsverband Deutschlands, die Pflegereform zu verschieben. Im Fokus der Kritik steht das Finanzierungskonzept. Wie auch der Wirtschaftsrat der CDU favorisiert die MIT eine eigenverantwortliche Zusatzvorsorge. „Die Finanzierung der Pflege müsste in beiden Szenarien über höhere Pflegebeiträge oder – wie vom Bundesgesundheitsminister vorgeschlagen – über Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt übernommen werden“, so Wolfgang Steiger, Generalsekretär des Wirtschaftsrates. „Aufgrund des bereits einsetzenden demografischen Wandels werden aber schon heute andere Teile des deutschen Sozialsystems wie Krankenversicherung und Rentenversicherung durch Zuschüsse des Bundes massiv unterstützt. Die Ausweitung der Bundeszuschüsse ist ein weiterer sozialpolitischer Sündenfall, der jüngeren Generationen neue Lasten aufbürdet.“
„Unabsehbare Kosten“
Ebenso lehnt der Wirtschaftsrat die geplante Erhöhung des Beitragssatzes für Kinderlose um 0,1 Prozentpunkte ab. „Kinderlose bezahlen bereits heute einen höheren Beitrag als Eltern und liegen somit schon seit geraumer Zeit über der von der Großen Koalition gegebenen Sozialabgabengarantie von 40 Prozent bei den Lohnzusatzkosten“, kritisiert Steiger. „Statt weiteren Belastungen für die öffentlichen Haushalte und die Beitragszahler muss das Ziel eine ausgewogene Finanzierung durch die gesetzliche Pflegeversicherung auf der einen und eine eigenverantwortliche Zusatzvorsorge der Bürger auf der anderen Seite sein. Dafür sind die Stärkung der zusätzlichen privaten Pflegevorsorge und die Sensibilisierung der Menschen für den möglichen künftigen Pflegebedarf unerlässlich.“ Der Wirtschaftsrat warnt deshalb auch vor einer Begrenzung des Eigenanteils an pflegerischen Leistungen. „Wenn wie im neuen Entwurf geplant eine Reduzierung der pflegebedingten Eigenanteile bezogen auf die Pflegedauer kommt, bedeutet das nicht nur unabsehbare Kosten für die Staatskasse, sondern auch eine Desensibilisierung der Bürger für die Pflegevorsorge“, warnt Wolfgang Steiger. „Gerade mit Blick auf die durch Corona angespannte Haushaltslage und die Rekordneuverschuldung im Jahr 2020 wäre das unverantwortlich.“
Rückenwind aus Bayern
Dagegen hat Bayerns Gesundheits- und Pflegeminister Klaus Holetschek (CSU) die Bundesregierung aufgefordert, die Pflegereform nicht länger aufzuschieben: „Die Pflegereform muss endlich angepackt werden! Sie darf nicht Corona zum Opfer fallen - das sind wir den Pflegebedürftigen und den Pflegekräften gleichermaßen schuldig, die eine Perspektive brauchen.“ Der Minister fügte hinzu: „Die Pflege bleibt auf Jahre oder sogar Jahrzehnte hinaus eine große gesellschaftliche Herausforderung. Ich setze mich dafür ein, noch in dieser Legislaturperiode die Reform durchzusetzen.“ Holetschek kritisierte: „Seit Mitte März ist ein Arbeitsentwurf des Bundesgesundheitsministeriums bekannt. Einen offiziellen Referentenentwurf zum Start des parlamentarischen Verfahrens gibt es aber immer noch nicht. Ich fordere hier mehr Tempo, wir müssen zum Beispiel rasch die Frage der Finanzierung klären.“
„Die Belastung wächst von Jahr zu Jahr“
Holetschek hatte Mitte März Eckpunkte für einen Reformplan vorgelegt. Er bekräftigte: „Wir brauchen mehr Pflegepersonal und eine Versorgungs- und Finanzreform. Das geht zum Beispiel mit einer Pflegeversicherung, die substantiell finanzielle Risiken der Pflege absichert, mit verbindlichen tariflichen Vergütungsstrukturen und steuerlichen Vorteilen für Pflegepersonal und mit der Stärkung der Versorgungsstrukturen vor Ort.“ Der Minister fügte hinzu: „Wenn es nicht gelingt, die Reform anzupacken, dann müssen wir zumindest eine kräftige Erhöhung der Leistungsbeträge auf den Weg bringen. Die finanzielle Belastung im Pflegefall wird nicht nur bei Weitem nicht ausgeglichen, sie wächst von Jahr zu Jahr.“ Holetschek erläuterte: „Man muss sich vor Augen halten: Die Leistungsbeträge der Pflegeversicherung wurden das letzte Mal vor über vier Jahren angehoben, zum 1. Januar 2017. Seitdem sind die Kosten der Pflege enorm gestiegen. Beispielsweise ist der pflegebedingte Eigenanteil im Heim seitdem im Bundesschnitt von 580 Euro auf 831 Euro gestiegen, das sind über 40 Prozent.“ Der Minister ergänzte: „Uns erreichen regelmäßig Schilderungen von Einzelfällen, die jedem klarmachen müssen, dass es so nicht weitergehen kann. Wenn Angehörige zum Beispiel Post vom Heim erreicht, dass die Preise um über 400 Euro monatlich angehoben werden, kann das Familien in finanzielle Nöte stürzen. Bei der Anpassung der Leistungen der Pflegeversicherung an die Kostenentwicklung müssen wir dringend nachbessern – und zwar vor der Bundestagswahl! Das kann aber nur auf Bundesebene geschehen, daher fordere ich die Bundesregierung auf, endlich aktiv zu werden.“